Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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sondern Stereotypen, Motive, die unsere Vorstellungskraft
durchziehen – es reizt ihn, Vorstellungen, Charaktere,
verkörperte Normen zu töten, reiche, gebildete und
dekadente Teenager, aufgewachsen mit Horrorserien und
Videospielen. Er selbst ist eine Karikatur, paradigmatische
Figur einer angelsächsischen kulturellen Hegemonie, der
neueste Avatar einer degenerierten Mythologie des einsamen
Vigilanten weißer Vorherrschaft. So tötet der Killer
genau so, wie wir einen Hit im Radio mitträllern: Nachdem
wir ihn so oft gehört haben, kennen wir die Melodie, ein
paar Strophen, die wir singen können, ohne uns bewusst
zu sein, dass diese Melodie, dieses Lied, in uns verankert,
auswendig gelernt ist, ob es uns nun gefällt oder nicht. In
Jerk sind die Abgründe, die sich von Zeit zu Zeit auftun,
diejenigen, die uns einen Blick auf die Dichte der Realität
werfen lassen, wo das Leben, jedes einzelne, einzigartig,
trotz seines Hauchs von »Déjà vu«, dem normativen
Szenario zu widerstehen und zu widersprechen scheint.
Aber die schändlichste, erschreckendste, unmoralischste
und blutigste Dimension besteht nicht so sehr in den
Folterszenen, nicht einmal in der lautstarken Szene der
blutrünstigen Sodomie einer Marionette, sondern in dem
Bewusstsein, dass wir, die Zuschauer, die Schreie der
Opfer, ihre Bitten, als völlig nichtig empfinden. Der gesellschaftliche
Kontext, das Erzählmotiv und das Bild, das
wir antizipieren, haben uns gelehrt, den Tod des Opfers
zu erwarten, seine Hilflosigkeit, seine extreme Verletzlichkeit
zu bezeugen und schließlich jenen ultimativen Moment
der banalen und unterhaltsamen Absurdität seiner
Aufopferung herbeizusehnen: Das Opfer stirbt sowieso,
es steht geschrieben, es ist klar und bekannt, es ist das,
was geschehen muss, und wir sind mit dieser Gleichgültigkeit
aufgewachsen, dass ganze Bevölkerungsgruppen zum
Tode bestimmte Wesen sind. Wir wären fast enttäuscht,
wenn es anders wäre (und überhaupt, was fällt uns als
Erstes ein, wenn wir von »Migrant:innen« sprechen, wenn
wir von »Hungersnot«, von »Unruhen«, von »Familiendramen«
sprechen?).
Was drängt uns Gisèle Vienne zu erkennen, wenn sie
weiße Mädchen, zerbrechliche Heranwachsende und
stumme Puppen in dichten, hochgewachsenen Wäldern
inszeniert? Was trägt sie uns auf, wenn nicht unsere
eigenen »Erwartungen«, unsere eigenen Kategorien,
unsere eigenen Gewohnheiten der Grausamkeit, die uns
beim Anblick des Kindes und des Baumes nach Blut und
Drama lechzen lassen (und sogar unsere Angst, dass es
so kommen wird), zu thematisieren. Unterdessen schaudert
es uns alle am Rande der dunklen Wälder, aber die
eigentliche Funktion dieses abgedroschenen Mythos
besteht darin, uns blind, taub und gefühllos – und damit
radikal und absolut grausam, sadistisch – gegenüber den
Kindern zu machen, die nicht im Wald, sondern unter dem
Bombenhagel oder in Kanus im Mittelmeer sterben. Ob es
Mythen, Normen, Erzähl- und Vorstellungsmotive gibt, ist
nicht der Punkt – es gibt sie auf jeden Fall: und die Frage
ist nicht nur, welche. Mit anderen Worten: In welchen
schwelgen wir aus Gewohnheit? Um welche Leere zu
füllen, um welche Realität zu verdecken, um was zu vergessen?
Und vor allem, was formen, fabrizieren und produzieren
diese Mythen? Was kosten sie uns, was nehmen
sie uns, indem wir an ihnen festhalten? Was erhalten wir
aufrecht, insbesondere in Bezug auf das Begehren, die
Erotisierung der Dominanz, die Gewaltkultur, aber auch
die Amnesie hinsichtlich dessen, was es heißt, Zeuge,
Opfer oder Akteur der rohen Gewalt zu sein, die wir jeden
Tag erleben? Und was bringen sie in materieller, ideologischer,
politischer und wirtschaftlicher Hinsicht an Grundlegendem
ein? In Bezug auf die soziale Disziplin, in Bezug
auf das unschuldige Kollektiv?
DAS OPFER STIRBT
SOWIESO, ES STEHT
GESCHRIEBEN,
ES IST KLAR UND
BEKANNT, ES IST
DAS, WAS GESCHEHEN
MUSS, UND WIR
SIND MIT DIESER
GLEICHGÜLTIGKEIT
AUFGEWACHSEN,
DASS GANZE
BEVÖLKERUNGS-
GRUPPEN ZUM
TODE BESTIMMTE
WESEN SIND.
Das lässt mich daran denken, wie arm wir an Gegenmythologien,
an dissonanten Darstellungen sind; wie schwierig
es ist, etwas zu produzieren, das die Größenordnung des
noch nie Dagewesenen, des Unerwarteten hätte und das
die Kraft besäße, die abgeschottete Welt unserer verdummenden
und für den sie nährenden Markt profitablen
Vorstellungskraft zu implodieren. Diese Beobachtung impliziert
natürlich die Frage nach den Bedingungen einer
möglichen Verschiebung, einer Dezentrierung, aber auch
einer Umkehrung des Imaginären – das heißt nach den
Bedingungen einer Wiederherstellung des Möglichen. Es
reicht nicht, Rotkäppchen zu bewaffnen, damit sie dem
Wolf das Maul stopfen kann – es reicht nicht, auch wenn
es nicht unangenehm ist, sich das vorzustellen (bei allem
Respekt vor der Psychoanalyse), sich dieses zerbrechliche
und hilfsbereite kleine Mädchen vorzustellen, das
den Wolf fängt und ihm die Kehle durchschneidet, ihm
den Schwanz abschneidet und ihn dazu bringt, ihn zu
fressen, bevor ihm einfällt, dass er die Großmutter, das
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