Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021-V3
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Gisèle Vienne begibt sich auf eine akribische, hartnäckige
und anspruchsvolle Suche. Sie erkundet den Rahmen der
Intelligibilität, die unsere Gestik, unsere Vorstellungskraft
und unsere kollektiven Mythen, unsere Identitäten, unsere
Moral und letztendlich die soziale Ordnung bestimmt. Eine
Erkundung dessen, wie wir uns für andere, für uns selbst
verständlich machen müssen, bis hin zu unseren Körperbewegungen,
unseren Blicken, unseren Impulsen, unseren
Sehnsüchten, unseren Erregungen bis hin zu unserer
Haltung und unserer Art zu gehen, in denen sich unsere
Gefühle, unsere Vorstellungen, unsere Empfindungen,
unsere Fantasien und unsere intimsten Schamgefühle abspielen;
so viel ursprüngliches, unverarbeitetes Material,
das auf die gewinnbringendste und produktivste Art und
Weise verarbeitet werden muss. Gisèle Vienne geht der
Sache auf den Grund: Sie versucht die imaginäre Maschinerie
unserer hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften
zu demontieren und zu sezieren. Sie sucht zu
durchbrechen, was den Diskurs von Toleranz und Respekt,
von Gut und Böse, von gleichen Rechten und individuellen
Freiheiten und der permanenten, prosaischen, zügellosen
extremen Gewalt, die unsere Demokratien erzeugen, verbindet:
zuallererst die Gewalt der Bilder und der Imagination.
Eine profitable Überproduktion, die wir so lange
übermäßig konsumieren, bis wir uns selbst verkaufen, uns
selber bis an den Rand des Ekels verzehren – Geschichten,
Erzählungen, Fotografien, Filme, Zeitungen, Karikaturen,
Zeichnungen, Anzeigen, Profile, Newsfeeds … alles ist
verschlüsselt, um Gewalt zu verkaufen, unsere Gewalt,
um sie produktiv zu machen. So entsteht eine vorherrschende
Norm einer weißen, üppigen, blonden, postadoleszenten,
»sexy« Weiblichkeit, die unser Leben, unsere
Körper beherrscht, die wir mit Zeit, Energie, Emotionen,
Accessoires, Kunstgriffen und Skalpellen erkaufen und
die uns schwitzen lässt und uns weh tut (die Füße, der
Magen, die Haut, die Haare … das Herz), die uns neidisch
macht, die uns erfreut, wenn all unser Geld und unsere
Arbeitskraft (die Arbeit eines ganzen Lebens, die darin besteht,
zur Frau zu werden …) durch den männlichen Blick
und die heterosexuelle Ausbeutung Bestätigung erfahren.
Doch gleichzeitig wird diese weiße, üppige, oft blonde
Frau, die immer auf die eine oder andere Weise aufregend
ist, in 90 % der visuellen Produktionen, von denen
wir umgeben sind, unerbittlich und so schnell wie möglich
abgeschlachtet, unterworfen, gefickt oder verprügelt. In
der Werbung für Luxusartikel, mit der unsere Städte und
U-Bahnen überzogen sind bis hin zu den Kinosälen und
Computerbildschirmen, in den am meisten ästhetisierten
Fantasien bis hin zur Massenpornografie ist diese Frau,
die Frau, »nützlich«, sie verkauft. Euer Tod, eure Vergewaltigung,
eure blauen Flecken, eure Tränen und euer
Schweiß bringen Geld ein. Und währenddessen werden
»reale« Frauen umgebracht, umgeben von einer allgemeinen
Gleichgültigkeit, willenlos und mit einem einfachen
Eintrag in der Rubrik »Nachrichten«, täglich sterben sie
an den Schlägen ihrer Lebensgefährten, »ihrer« Männer,
auch in Demokratien, die sich stolz auf der erlangten
Gleichberechtigung von Mann und Frau ausruhen; sie
sterben wie ein Tribut an »das blonde Mädchen mit den
großen Brüsten«, emblematisch für eine Thanatopolitik,
patriarchalisch zwar, aber demokratisch.
SIE ERKUNDET DEN
RAHMEN DER
INTELLIGIBILITÄT, DIE
UNSERE GESTIK,
UNSERE VOR-
STELLUNGS KRAFT UND
UNSERE KOLLEKTIVEN
MYTHEN, UNSERE
IDENTITÄTEN, UNSERE
MORAL UND
LETZTENDLICH DIE
SOZIALE ORDNUNG
BESTIMMT.
Von Gisèle Vienne immer wieder aufgegriffen, wird dieses
Motiv in Jerk auf die Spitze getrieben. Gisèle Vienne und
Dennis Cooper arbeiten und ziehen eine Spur: Der Serienkiller
massakriert nicht so sehr Individuen, das Subjektive,
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