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Der Großvater Ein Lebensbild gezeichnet von AZ - Licht und Recht

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99 <strong>Der</strong> Pastor <strong>und</strong> der Kirchmeister.<br />

<strong>und</strong>: wo nicht? wird nicht unterschieden. Man sieht überall wohl, was der Verfasser im Sinne hat; er führt das aber<br />

nicht in scharfen Linien aus. <strong>Der</strong> Satz z. B. „was vor vier Jahrh<strong>und</strong>erten auf den Scheiterhaufen zwang“ usw. ist<br />

formell richtig, wenn auch der 30jährige Krieg kein Religionskrieg, sondern ein Krieg antiösterreichischer Interessen<br />

gegen österreichische war <strong>und</strong> die Religion nur die Maske, mit der man die guten deutschen Esel zum Vaterlandsverrate<br />

verführte – aber wenn man die formelle Richtigkeit für eine reale nehmen wollte, wäre es eine bloß<br />

freimaurerische Redensart <strong>und</strong> weiter nichts – denn die Sachen sind heute in der Wirklichkeit noch ebenso da, nur<br />

in anderen Formen <strong>und</strong> Kleidern – auch heute wird noch um der Gesinnung willen verbrannt, nur nicht auf Scheiterhaufen<br />

<strong>und</strong> nicht um dessen willen, was man damals Religion nannte <strong>und</strong> auch jetzt nur so nennt – was aber<br />

doch wirkliche populare Religion (wenn auch des Teufels) ist, denn jede Art Gesinnung hat eine wirkliche Religion<br />

als Wurzel <strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong>, selbst die Gesinnungen der Börse <strong>und</strong> des Magens – man nennt’s nur nicht so.<br />

Das Gewissen ist allerdings ein Mitwissen (sogar etymologisch, denn das deutsche ge- entspricht genau in seiner<br />

Bedeutung dem lateinischen con- Mitwissen also conscientia, Gewissen) – entweder ein Mitwissen mit einer<br />

Gemeinde, die die halbe oder ganze Mitwelt sein kann, <strong>und</strong> welches dann die Nachdruckskraft eines ganzen<br />

Volkswissens haben kann, so dass wer dagegen an will <strong>von</strong> allen Seiten verlassen wird – falls nämlich ein Volk zu<br />

einer Gemeinde durch eine einige in ihm wirklich lebendige Religion gemacht worden ist – oder ein Mitwissen aller<br />

Lebensfasern in einem Menschen (nicht bloß seines Verstandes), so dass es in dem Gotte oder in den Göttern<br />

dieses Menschen wurzelt <strong>und</strong> er gar nicht leben kann, ohne sich dazu zu bekennen; es kann auch ein Mitwissen in<br />

beiderlei Sinn sein, <strong>und</strong> wird dann um so größere Macht haben. Heutzutage aber, wo ein Mitwissen der letzteren<br />

Art sehr wenige Menschen haben, <strong>und</strong> wirklich geistig einige Gemeinden fast gar nicht, sondern nur Brocken solcher<br />

Gemeinden übrig sind, ist das Wort Gewissen nur ein bequemer <strong>Großvater</strong>stuhl, auf den sich jeder Narr setzt,<br />

sobald er das Bedürfnis fühlt, sich für seinen aparten Eigensinn, vielleicht für eine bloße Schrulle oder irgend eine<br />

Behauptung seiner Eitelkeit oder seines Egoismus ein Adelsdiplom oder einen Sauvegardebrief auszufertigen. Die<br />

deutsche Nation als solche hat kein Gewissen mehr, obwohl es wirklich gewissenhafte Leute in ihr noch mehre<br />

gibt, als fast in irgend einer anderen. Das ist unser sittlicher Zustand, wer diesen Zustand aber als sittliches Bewusstsein<br />

aussprechen wollte, würde vom allgemein sittlichen Bewusstsein gesteinigt <strong>und</strong> verbrannt, obwohl er<br />

die Wahrheit sagte. – „Die Exegese des geschriebenen Wortes vollendet sich in der Hermeneutik des Gewissens“ –<br />

eine prächtige Phrase! <strong>und</strong> ja wohl! ja wohl! wir sehen’s; wir kennen diese Hermeneutik des jedesmaligen eignen<br />

<strong>Großvater</strong>stuhles nun zur Genüge! – „Das ethische Prinzip hat die Majestät der Gegenwart“ – das klingt zu schön!<br />

wer mir aber solche Phrase nur deutlich erklären <strong>und</strong> dabei doch verständig bleiben könnte. Ohngefähr denken,<br />

was gemeint ist, kann ich mir denken, wesentlich aber kömmt dabei heraus: Schwimel! Dass das sittliche Bewusstsein<br />

unserer Zeit da sei in dem Verlangen nach allgemeiner Bildung, in dem Dasein namentlich der Volksschule,<br />

ist richtig, aber nicht ganz, denn es ist viel zu eng <strong>und</strong> einseitig ausgesprochen, denn unsere Volksschule<br />

erzieht im Wesentlichen doch nur den intellektuellen Teil des Menschen, nur in sehr geringem Maße Willenskraft<br />

<strong>und</strong> Willensreinheit – nur selten eindrücklich – meist in sehr trocken <strong>und</strong> beim Lehrer selbst sehr unlebendig gewordener<br />

Formel einer Religion, die doch das ganze Leben <strong>und</strong> namentlich alle Willenskräfte des Menschen lebendig<br />

durchdringen sollte. Unsere Bildung hat uns feig gemacht <strong>und</strong> unsere Anstandsbegriffe dienen unserem<br />

Willen als sehr die Willensbewegung unerzogen freilassende Crinoline; es ist aber falsch, dass der Verstand das<br />

frühere, das den Willen bedingende sei <strong>und</strong> der Wille das spätere; der Wille ist vielmehr das frühere <strong>und</strong> ohne gu -<br />

ten Willen ist gutes Verständnis erst gar nicht möglich. <strong>Der</strong> Verstand folgt dem Willen wie der H<strong>und</strong> dem Seile, an<br />

das er geb<strong>und</strong>en ist. Das hat auch Christus gelehrt, Joh. VII. 17 <strong>und</strong> 1. Joh. II. 17. Vor unwilligem Ohre spricht<br />

auch Gott vergebens, wie Christus tausendfach erfahren hat. <strong>Der</strong> Wille unserer Zeit geht aber hauptsächlich, auch<br />

in der Volksschule, nur auf die Erziehung des intellektuellen Menschen – aber dieser Prozess greift, seit man den<br />

Stock, diese vortreffliche Krücke des lahmen Willens, überall bei Seite geworfen hat, viel weiter – <strong>und</strong> so ist das<br />

sittliche Bewusstsein unserer Gegenwart vielmehr der Wille, dass jeder nicht bloß alles müsse lernen – sondern<br />

auch haben, halten <strong>und</strong> erwerben können, was ihm beliebe. Es verlangt, dass keinem nichts dürfe verschlossen<br />

bleiben. <strong>Ein</strong>sichten, Stände, <strong>Recht</strong>e, die noch <strong>von</strong> Gott auf anderem Wege verliehen werden können als durch die<br />

intellektuellen Kräfte des <strong>Ein</strong>zelnen, soll es nicht mehr geben. Jeder soll alles werden können – <strong>und</strong> wer das nicht<br />

zugeben will, dem rufen die Republikaner, die in dieser Richtung ganz konsequent sind, zu, die Füße derer, die<br />

dich wegtragen werden, stehen vor deiner Türe. Das ist die Signatur des sittlichen Bewusstseins unserer Zeit. <strong>Ein</strong>e<br />

Volksschule, die auch den Willen des Menschen in einer bestimmten Richtung erzöge, <strong>und</strong> ihm alle Vieles <strong>von</strong><br />

vornherein unantastbar <strong>und</strong> für ihn verschlossen sein ließe, obwohl er lesen, schreiben <strong>und</strong> rechnen <strong>und</strong> messen

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