Antworten auf Althusser - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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950 Hans Jörg Rheinberger<br />
keit" 109 der werktäglichen Verhältnisse oder umgekehrt ihre Verschleierung<br />
im alltäglichen Bewußtsein sowie in seiner mehr oder<br />
weniger systematisierten Form hängt selbst Nieder von der bestimmten<br />
Form der Gesellschaft ab, in der sie ihre je besondere<br />
Funktion erfüllen.<br />
Als je spezifische Sphären des gesellschaftlichen Bewußtseins,<br />
denen spezifische, materielle gesellschaftliche Strukturen entsprechen,<br />
sind sowohl Wissenschaft als auch Ideologie als Bereiche des<br />
gesellschaftlichen Überbaus anzusehen. Als direkter bewußtseinsmäßiger<br />
Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen und damit<br />
ideeller Träger von Klasseninteressen kann Ideologie sowohl hemmend<br />
als auch fördernd (dies ist jeweils nur historisch konkret bestimmbar)<br />
in die Entwicklung der Wissenschaft eingreifen; insofern<br />
bleibt diese in beiden Fällen von Klasseninteressen nicht unberührt,<br />
was <strong>Althusser</strong> nicht bestreiten würde.<br />
Aber auch — und das ist der entscheidende Punkt — das wissenschaftliche<br />
Erkenntnisinteresse selbst artikuliert sich unter historisch<br />
bestimmten Verhältnissen als Klasseninteresse und das Klasseninteresse<br />
umgekehrt als Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis, wie<br />
wir unter 2.3. zu zeigen versucht haben. Und es kann auch insofern<br />
nie „reines" Erkenntnisinteresse sein, als es gerade als solches (was<br />
und wozu erkennen?) letztlich immer aus dem materiellen Lebensprozeß<br />
in seiner bestimmten historischen Form entspringt und in<br />
letzter Instanz auch immer in diesen eingeht. In dem Maße, in dem<br />
die Wissenschaft selbst systematisch in diesen einzugehen beginnt,<br />
der Produktionsprozeß sich also „verwissenschaftlicht", kann wissenschaftliche<br />
Produktion als „allgemeine Arbeit" angesehen werden<br />
und bildet als solche auch Bestandteil der materiellen Basis einer<br />
Gesellschaft. „Allgemeine Arbeit ist alle wissenschaftliche Arbeit,<br />
alle Entdeckimg, alle Erfindung. Sie ist bedingt teils durch Kooperation<br />
mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten früherer." 110<br />
Die „Arbeit der materiellen Produktion" — „Wissenschaftlichen<br />
Charakters, zugleich allgemeine Arbeit" — ist dann nicht mehr „Anstrengung<br />
des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern<br />
als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher,<br />
naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde<br />
Tätigkeit erscheint" in . Sie kann endgültig diesen Charakter aber nur<br />
erhalten dadurch, daß auch „ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt"<br />
1 ist U2 . .<br />
Die Setzung ihres nach Gesellschaftlichkeit drängenden Charakters<br />
als privater unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion<br />
bleibt selbst wieder nicht ohne Auswirkung <strong>auf</strong> Form und Entwicklungsrichtung<br />
wissenschaftlicher Erkenntnis. <strong>Althusser</strong> macht es sich<br />
109 Marx, Kapital, MEW Bd. 23, S. 93.<br />
110 Marx, Kapital, MEW Bd. 25, S. 113.<br />
111 Marx, Grundrisse, S. 504.<br />
112 Marx, Grundrisse, S. 504.<br />
DAS ARGUMENT 94/1975 ©