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Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia

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»Wie alt warst du damals, Don Juan?« fragte ich, nur um meine Traurigkeit zu<br />

verscheuchen.<br />

»Etwa sieben. Es war die Zeit der großen Yaqui-Kriege. Die mexikanischen Soldaten<br />

überfielen uns, wir wurden überrascht, meine Mutter kochte gerade Essen. Sie war<br />

eine hilflose Frau. Sie töteten sie ohne jeden Grund. Es macht eigentlich keinen<br />

Unterschied, daß sie auf diese Weise starb, nicht wirklich, für mich allerdings <strong>do</strong>ch.<br />

Ich kann selbst nicht sagen, warum; es ist einfach so. Ich glaubte, daß sie auch<br />

meinen Vater getötet hätten, aber das stimmte nicht. Er war verwundet. Später<br />

steckten sie uns wie Vieh in einen Güterzug und schlossen die Türen. Tagelang<br />

hielten sie uns <strong>do</strong>rt wie Tiere im Dunkeln eingesperrt. Wir hielten uns mit dem<br />

wenigen am Leben, das sie uns von Zeit zu Zeit in den Waggon warfen. Mein Vater<br />

starb in diesem Waggon an seinen Wunden. Vor Schmerzen und Fieber kam er ins<br />

Delirium und sagte mir immer wieder, ich müsse am Leben bleiben. Das sagte er mir<br />

immer wieder, bis zum letzten Augenblick seines Lebens. Die Leute nahmen sich<br />

meiner an; sie gaben mir zu essen; eine alte Heilpraktikerin richtete die gebrochenen<br />

Knochen meiner Hand. Und wie du siehst, lebe ich noch. Das Leben ist weder gut<br />

noch schlecht zu mir gewesen; das Leben war schwer. Das Leben ist schwer, und für<br />

ein Kind ist es manchmal das reine Grauen.«<br />

Sehr lange sprachen wir kein Wort. Vielleicht eine Stunde verstrich in völligem<br />

Schweigen. Ich hatte sehr verwirrende Gefühle. Ich war irgendwie niedergeschlagen,<br />

und <strong>do</strong>ch konnte ich nicht sagen warum. Ich hatte irgendwie ein schlechtes<br />

Gewissen. Gerade noch hatte ich nur mit Don Juan einen Spaß machen wollen, <strong>do</strong>ch<br />

plötzlich hatte er mit dieser direkten Erzählung das Blatt gewendet. Sie war einfach<br />

und bündig gewesen, und sie hatte ein seltsames Gefühl in mir hervorgerufen. Die<br />

Vorstellung von einem gequälten oder sich quälenden Kind hatte für mich immer<br />

schon etwas Erschreckendes. Gleich darauf schlug mein Mitgefühl für Don Juan in<br />

Ekel gegen mich selbst um. Ich hatte tatsächlich mitgeschrieben, als sei Don Juans<br />

Leben lediglich ein klinischer Fall. Ich war nahe daran, meine Notizen zu zerreißen,<br />

als Don Juan mich mit den Zehenspitzen gegen die Wade stieß, um meine<br />

Aufmerksamkeit wachzurufen. Er sagte, daß er mich von einem Leuchten der<br />

Gewalttätigkeit umgeben sähe und sich fragte, ob ich mich im nächsten Moment auf<br />

ihn stürzen wollte. Sein Lachen war eine freundliche Unterbrechung. Er sagte, daß<br />

ich zu Gewaltausbrüchen neige, daß ich je<strong>do</strong>ch nicht wirklich bösartig sei und die<br />

Gewalttätigkeit meistens gegen mich selbst richtete.<br />

Seite 119

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