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Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia

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»Da hast du recht, Don Juan«, sagte ich. »Natürlich«, sagte er lachend.<br />

Er forderte mich auf, über meine Kindheit zu sprechen. Ich begann ihm von meinen<br />

Jahren der Furcht und Einsamkeit zu erzählen und gab ihm eine Schilderung dessen,<br />

was ich als meinen bedingungslosen Kampf ums Überleben und um die Erhaltung<br />

meines Verstandes bezeichnete. Er lachte über die Formulierung »Erhaltung meines<br />

Verstandes«. Ich sprach lange. Er hörte mit ernstem Gesicht zu. Dann, unvermittelt,<br />

»kniffen« mich seine Augen wieder, und ich hörte auf zu sprechen. Nach kurzer<br />

Pause sagte er, daß mich noch nie jemand gedemütigt hätte, und das sei der Grund,<br />

warum ich nicht wirklich bösartig sei. »Du bist noch nicht besiegt worden«, sagte er.<br />

Diese Bemerkung wiederholte er vier- oder fünfmal, darum fühlte ich mich<br />

verpflichtet, ihn zu fragen, was er damit meinte. Er erklärte, das Besiegtsein sei eine<br />

unvermeidbare Bedingung des Lebens. Die Menschen seien entweder siegreich oder<br />

würden besiegt, und je nachdem würden sie zu Verfolgern oder Opfern. Diese zwei<br />

Bedingungen gelten, solange man nicht sieht; das Sehen verbannt die Illusion des<br />

Sieges, der Niederlage oder des Leidens. Er fügte hinzu, daß ich sehen lernen sollte,<br />

solange ich siegreich sei, um zu vermeiden, daß ich mich je daran erinnern mußte,<br />

gedemütigt worden zu sein.<br />

Ich wandte ein, daß ich auf keinem Gebiet siegreich sei und es nie gewesen war; und<br />

daß mein Leben, wenn überhaupt irgend etwas, bestenfalls eine Niederlage sei. Er<br />

lachte und warf seinen Hut auf den Boden. »Wenn dein Leben eine derartige<br />

Niederlage ist, dann tritt auf meinen Hut«, führte er mich scherzhaft in Versuchung.<br />

Ich erläuterte meinen Standpunkt voller Aufrichtigkeit. Don Juan wurde ernst. Er kniff<br />

die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen. Er sagte, wenn ich mein Leben für<br />

eine Niederlage hielt, dann nur aus <strong>andere</strong>n Gründen als der Niederlage selbst.<br />

Dann nahm er sehr schnell und völlig unerwartet meinen Kopf zwischen seine<br />

Hände, wobei er die Handflächen an meine Schläfen legte. In seinen Augen lag ein<br />

wilder Ausdruck, als er in die meinen blickte. Vor Angst machte ich unwillkürlich<br />

einen tiefen Atemzug durch den Mund. Er ließ meinen Kopf los und lehnte sich, mich<br />

immer noch anstarrend, an die Wand. Er hatte diese Bewegungen mit einer<br />

derartigen Schnelligkeit ausgeführt, daß ich noch nicht wieder ausgeatmet hatte, als<br />

er schon entspannt und bequem an der Wand lehnte. Ich fühlte mich benommen und<br />

unbehaglich. »Ich sehe einen kleinen Jungen weinen«, sagte Don Juan nach einer<br />

Weile.<br />

Er wiederholte diesen Satz mehrmals, als ob ich nicht recht verstünde. Ich glaubte, er<br />

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