23.06.2014 Aufrufe

Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia

Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia

Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

kräuselten. Ich schaute jedesmal auf und war auf ein transzendentales Erlebnis<br />

gefaßt, aber ich sah nichts. Jedesmal, wenn der Wind in die Büsche blies, trat Don<br />

Juan heftig auf den Boden, wirbelte herum und bewegte seine Arme wie Peitschen.<br />

Die Kraft seiner Bewegungen war außerordentlich.<br />

Nach etlichen fehlgeschlagenen Versuchen, die »Zauberin im Flug« zu sehen, war<br />

ich sicher, daß ich keinem transzendentalen Geschehnis beiwohnen würde, aber<br />

Don Juans Machtdemonstration war so bemerkenswert, daß ich nichts dagegen<br />

hatte, die Nacht <strong>do</strong>rt zu verbringen.<br />

Bei Tagesanbruch setzte sich Don Juan neben mich. Er schien völlig erschöpft. Er<br />

konnte sich kaum bewegen. Er legte sich auf den Rücken und murmelte, es sei ihm<br />

nicht gelungen, »die Frau aufzuspießen«. Diese Bemerkung befremdete mich sehr;<br />

er wiederholte sie mehrmals, und jedesmal wurde seine Stimme niedergeschlagener<br />

und verzweifelter. <strong>Eine</strong> ungewohnte Angst überkam mich. Ich konnte leicht meine<br />

Gefühle in Don Juans Stimmung hineinprojizieren. Mehrere Monate äußerte sich Don<br />

Juan nicht über den Zwischenfall oder die Frau. Ich glaubte, er hätte die ganze<br />

Angelegenheit entweder vergessen oder schon erledigt. <strong>Eine</strong>s Tages aber traf ich ihn<br />

in sehr erregter Stimmung an, und in einer Art, die seiner normalen Ruhe völlig<br />

widersprach, sagte er mir, daß die Amsel in der vergangenen Nacht direkt vor ihm<br />

gestanden und ihn beinah berührt hatte und daß er nicht einmal aufgewacht sei. Die<br />

Kunst dieser Frau sei so groß, daß er ihre Gegenwart überhaupt nicht gespürt hatte.<br />

Er sagte, es sei sein Glück gewesen, daß er gerade rechtzeitig erwachte, um einen<br />

furchtbaren Kampf um sein Leben zu führen. Der Tonfall in Don Juans Stimme<br />

verlangte Anteilnahme, ja beinah Mitleid. <strong>Eine</strong> Welle von Mitgefühl und Besorgnis<br />

überkam mich. Mit dumpfer, dramatischer Stimme versicherte er mir, daß es keine<br />

Möglichkeit gab, sie aufzuhalten, und daß es das nächstemal, wenn sie in seine<br />

Nähe käme, sein letzter Tag auf Erden sein würde. Ich war verzagt, mir kamen fast<br />

die Tränen. Don Juan schien meine tiefe Besorgnis zu bemerken und lachte, wie es<br />

mir schien, tapfer. Er klopfte mir auf den Rücken und sagte, ich solle mir keine<br />

Sorgen machen, er sei noch nicht ganz verloren, weil er noch einen letzten Trumpf in<br />

der Hand hätte.<br />

»Ein Krieger lebt strategisch«, sagte er lächelnd. »Ein Krieger schleppt nie eine Last,<br />

mit der er nicht fertig wird.« Don Juans Lächeln hatte die Kraft, die dunklen Wolken<br />

des Verhängnisses zu vertreiben. Plötzlich fühlte ich mich erleichtert, und wir lachten<br />

beide. Er tätschelte meinen Kopf. »Weißt du, von allen Dingen auf dieser Welt bist du<br />

Seite 178

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!