Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia
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Er wollte genau wissen, was sich bei meinem Besuch bei Don Vicente zugetragen<br />
hatte.<br />
Ich erzählte ihm, wie ich damals durch die Stadt gefahren und am Marktplatz<br />
vorbeigekommen war und plötzlich auf die Idee kam, Don Vicente zu besuchen. Ich<br />
ging auf den Markt, und zwar in den Teil, wo die Heilkräuter verkauft wurden. Es gab<br />
<strong>do</strong>rt drei Stände in einer Reihe, aber sie gehörten drei dicken Frauen. Ich ging bis<br />
zum Ende des Mittelganges und fand, gleich um die Ecke, einen weiteren Stand.<br />
Dort sah ich einen hageren, zierlichen, weißhaarigen Mann. Er verkaufte gerade<br />
einer Frau ein Vogelbauer. Ich wartete, bis er wieder allein war, und fragte ihn dann,<br />
ob er Don Vicente Medrano kannte. Er sah mich an ohne zu antworten.<br />
»Was willst du von diesem Vicente Medrano?« fragte er schließlich.<br />
Ich sagte, ich sei gekommen, um ihn im Auftrag seines Freundes zu besuchen, und<br />
nannte Don Juans Namen. Der alte Mann betrachtete mich einen Augenblick und<br />
sagte dann, er sei Vicente Medrano und stehe mir zur Verfügung. Er forderte mich<br />
auf, Platz zu nehmen. Offenbar freute er sich, er war gelöst und ausgesprochen<br />
freundlich. Ich erzählte ihm von meiner Freundschaft mit Don Juan. Ich spürte sofort<br />
ein Band der Sympathie zwischen uns. Er erzählte mir, daß er und Don Juan<br />
einander kannten, seit sie zwanzig waren. Don Vicente war voll des Lobes für Don<br />
Juan. Gegen Ende unseres Gesprächs sagte er mit bebender Stimme: »Juan ist<br />
wirklich ein Wissender. Ich selbst habe mich nur kurze Zeit mit der Macht der<br />
Pflanzen befaßt. Ich interessierte mich immer mehr für ihre Heilkraft; ich habe sogar<br />
Botanikbücher gesammelt, die ich erst vor kurzem verkauft habe.«<br />
Er schwieg einige Zeit. Ein paarmal rieb er sein Kinn, als suche er nach den richtigen<br />
Worten.<br />
»Man könnte sagen, daß ich nur ein Mann des lyrischen Wissens bin«, sagte er. »Ich<br />
bin nicht wie Juan, mein indianischer Bruder.«<br />
Wieder schwieg Don Vicente. Seine Augen waren glasig, und er starrte auf den<br />
Boden zu seiner Linken. Dann drehte er sich zu mir herum und sagte beinah<br />
flüsternd: »Oh, in welchen Höhen schwebt mein indianischer Bruder!« Don Vicente<br />
stand auf. Unsere Unterhaltung war damit offenbar beendet.<br />
Wenn ein <strong>andere</strong>r über seinen indianischen Bruder gesprochen hätte, wäre mir das<br />
als ein billiges Klischee erschienen. Don Vicentes Ton war je<strong>do</strong>ch so aufrichtig, und<br />
seine Augen waren so klar, daß ich von dem Bild seines in höchsten Höhen<br />
schwebenden indianischen Bruders hingerissen war. Ich nahm ihm ab, daß er<br />
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