Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia
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mich in Bewegung bringen konnte. Nichts geschah. Mit der Zeit fühlte ich mich sehr<br />
frustriert und geriet in Wut. Ich wollte den Kopf am Boden aufschlagen und weinen.<br />
Qualvolle Minuten vergingen, in denen ich mich bewegen oder sprechen wollte, aber<br />
beides war mir unmöglich. Ich war unbeweglich, wie gelähmt.<br />
»Don Juan, hilf mir!« brachte ich endlich heraus. Don Juan kam wieder und setzte<br />
sich lachend vor mich. Er sagte, jetzt würde ich hysterisch, und was ich auch immer<br />
erlebte, sei nun unwesentlich. Er hob meinen Kopf auf, schaute mich direkt an und<br />
sagte, ich hätte einen Anfall eingebildeter Angst und sollte mich nicht aufregen.<br />
»Dein Leben wird kompliziert«, sagte er. »Was es auch sein mag, das dich die<br />
Nerven verlieren läßt, mach dich davon los. Bleib jetzt ruhig und faß dich wieder.«<br />
Er legte meinen Kopf auf den Boden. Er stieg über mich hinweg und ich nahm nichts<br />
<strong>andere</strong>s wahr als das Schlurfen seiner Sandalen, als er fortging.<br />
Mein erster Impuls war, mich wieder aufzuregen, aber ich konnte nicht mehr die<br />
Energie dafür aufbringen. Statt dessen bemerkte ich, daß mich eine ungekannte<br />
Gelassenheit, ein großartiges Gefühl der Leichtigkeit überkam. Ich begriff, was die<br />
Kompliziertheit meines Lebens war. Es war mein kleiner Junge. Sein Vater zu sein,<br />
war mir wichtiger als alles <strong>andere</strong> auf der Welt. Mir gefiel der Gedanke, seinen<br />
Charakter zu formen, ihn auf Wanderungen mitzunehmen und ihn »das Leben« zu<br />
lehren, und trotzdem verabscheute ich die Vorstellung, ihm meine Lebensform<br />
aufzuzwingen, aber genau das war es, was ich würde tun müssen: ihn mit Gewalt<br />
oder jenen kunstvollen Argumenten und Belohnungen, die wir Verständnis nennen,<br />
unter Zwang setzen.<br />
»Ich muß ihn in Ruhe lassen«, dachte ich. »Ich darf mich nicht an ihn klammern. Ich<br />
muß ihm die Freiheit lassen.« Diese Gedanken waren von einer beängstigenden<br />
Trauer begleitet. Ich fing an zu weinen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und das<br />
Bild der Veranda verschwamm. Plötzlich verspürte ich das starke Bedürfnis,<br />
aufzustehen und nach Don Juan zu suchen, um ihm von meinem kleinen Sohn zu<br />
erzählen. Als nächstes erkannte ich, daß ich die Veranda aus einer aufrechten<br />
Haltung überblickte. Ich drehte mich nach dem Haus um - und da stand Don Juan<br />
direkt vor mir. Offenbar hatte er die ganze Zeit <strong>do</strong>rt gestanden.<br />
Obwohl ich meine Schritte nicht spürte, muß ich auf ihn zugegangen sein, denn ich<br />
bewegte mich. Don Juan kam mir lächelnd entgegen und hielt mich an den Ellbogen<br />
fest. Sein Gesicht war nah vor mir. »Gute Arbeit«, sagte er lobend.<br />
In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß sich hier und jetzt etwas<br />
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