Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia
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aus dem Buch vorlas und erklärte. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach mich kein<br />
einziges Mal. Zweimal machte ich eine kurze Pause, während er Wasser und etwas<br />
zu essen holte, aber sobald er wieder bereit war, drängte er mich, weiterzulesen. Er<br />
schien sehr interessiert. Als ich fertig war, sah er mich an. »Ich verstehe nicht, wie<br />
diese Leute da vom Tod reden, als sei der Tod wie das Leben«, sagte er leise.<br />
»Das ist vielleicht die Art, wie sie es auffassen. Glaubst du, die Tibetaner sehen?«<br />
»Kaum. Wenn ein Mann Sehen lernt, bleibt nichts, was er kennt, bestehen. Gar<br />
nichts. Wenn die Tibetaner sehen könnten, dann wüßten sie genau, daß kein<br />
einziges Ding dasselbe bleibt. Sobald wir sehen, ist uns nichts mehr vertraut. Nichts<br />
bleibt so, wie wir es kannten, als wir noch nicht sahen.« »Aber, Don Juan, vielleicht<br />
ist sehen nicht für jeden dasselbe.«<br />
»Richtig, es ist nicht dasselbe. Aber das heißt nicht, daß die Bedeutungen des<br />
Lebens dieselben bleiben. Wenn man sehen lernt, dann bleibt überhaupt nichts wie<br />
es war.« »Die Tibetaner glauben offenbar, daß der Tod wie das Leben ist. Wie stellst<br />
du selbst dir den Tod vor?« fragte ich. »Ich glaube, daß der Tod mit überhaupt nichts<br />
zu vergleichen ist. Und ich glaube, die Tibetaner müssen von etwas <strong>andere</strong>m<br />
sprechen. Auf jeden Fall sprechen sie nicht vom Tod.« »Wovon, glaubst du,<br />
sprechen sie?«<br />
»Du bist es, der liest.«<br />
Ich versuchte, noch etwas zu sagen, aber er fing an zu lachen.<br />
»Vielleicht sehen die Tibetaner wirklich«, fuhr Don Juan fort, »und in diesem Fall<br />
müssen sie erkannt haben, daß das, was sie sehen, überhaupt nicht zu erklären ist,<br />
und sie haben diesen ganzen Unsinn nur geschrieben, weil es für sie <strong>do</strong>ch keinen<br />
Unterschied macht; in diesem Fall wäre das, was sie geschrieben haben,<br />
keineswegs Unsinn.« »Mir ist wirklich egal, was die Tibetaner zu sagen haben, aber<br />
mir ist nicht egal, was du zu sagen hast. Und ich möchte gern hören, was du über<br />
den Tod denkst.«<br />
<strong>Eine</strong>n Moment starrte er mich an und schmunzelte. Er riß die Augen auf und hob die<br />
Augenbrauen mit einem komischen Ausdruck der Überraschung.<br />
»Der Tod ist ein Wirbel. Der Tod ist das Gesicht des Verbündeten. Der Tod ist eine<br />
leuchtende Wolke über dem Horizont. Der Tod ist das Flüstern Mescalitos in deinen<br />
Ohren. Der Tod ist das zahnlose Maul des Wächters. Der Tod ist Genaro, wenn er<br />
auf dem Kopf sitzt. Der Tod bin ich, wenn ich spreche. Der Tod bist du und dein<br />
Schreibblock. Der Tod ist nichts, gar nichts. Er ist da, und trotzdem ist er nicht da.«<br />
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