Carlos Castaneda - Eine andere Wirklichkeit.do - Sapientia
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Ich lebe trotzdem weiter, weil ich meinen Willen habe. Weil ich mein ganzes Leben<br />
lang meinen Willen bezähmt habe, bis er klar und dienstbar wurde, und jetzt macht<br />
es mir nichts mehr aus, daß nichts wichtig ist. Mein Wille kontrolliert die Torheit<br />
meines Lebens.«<br />
Er hockte sich nieder und fuhr mit den Fingern über ein paar Kräuter, die er auf<br />
einem großen Stück Sackleinen in die Sonne zum Trocknen gelegt hatte. Ich war<br />
verblüfft. Ich hätte nie geglaubt, daß meine Frage in eine solche Richtung führen<br />
würde. Nach einer langen Pause fiel mir ein guter Einwand ein. Ich sagte, daß für<br />
mich gewisse Handlungen meiner Mitmenschen von größter Bedeutung seien. Ich<br />
erwähnte den Atomkrieg als das zweifellos drastischeste Beispiel einer solchen<br />
Handlung. Die Zerstörung des Lebens auf Erden, sagte ich, sei für mich eine<br />
erschreckende Ungeheuerlichkeit. »Das glaubst du, weil du dir Gedanken machst.<br />
Du denkst über das Leben nach«, sagte Don Juan augenzwinkernd. »Du siehst<br />
nicht.«<br />
»Wäre ich <strong>andere</strong>r Meinung, wenn ich sehen würde?« »Sobald ein Mann sehen lernt,<br />
stellt er fest, daß er allein auf der Welt und nur von Torheit umgeben ist«, sagte Don<br />
Juan rätselhaft.<br />
Er machte eine Pause und sah mich an, als wolle er die Wirkung seiner Worte<br />
abschätzen.<br />
»Deine Handlungen, wie auch die Handlungen deiner Mitmenschen im allgemeinen,<br />
erscheinen dir wichtig, weil du gelernt hast, sie wichtig zu nehmen.«<br />
Er sprach das Wort »gelernt« mit so eigenartiger Betonung aus, daß ich ihn fragen<br />
mußte, was er damit meinte. Er hörte auf, mit seinen Pflanzen zu hantieren, und sah<br />
mich an.<br />
»Wir lernen, über alles nachzudenken, und dann üben wir unsere Augen darin, die<br />
Dinge so zu sehen, wie wir über sie denken. Wir schauen uns an und sind im voraus<br />
überzeugt, daß wir wichtig sind. Darum müssen wir uns wichtig vorkommen! Aber<br />
wenn ein Mann sehen lernt, erkennt er, daß er nicht länger über die Dinge<br />
nachdenken kann, die er anschaut, und wenn er erkennt, daß er über das, was er<br />
sieht, nicht mehr nachdenken kann, dann wird alles unwichtig.« Don Juan mußte<br />
meinen erstaunten Blick bemerkt haben und wiederholte seine Feststellung dreimal,<br />
als wolle er mir helfen, sie zu verstehen. Was er sagte, war für mich anfangs<br />
ungereimtes Zeug, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschienen mir<br />
seine Worte als eine tiefsinnige Bemerkung über einen bestimmten Aspekt der<br />
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