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Lesen - Ulrich Horstmann

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ingt die Hände, bettelt, nein, betet mich an, während ich vorüberstiebe, so wie er<br />

Zehntausende vor mir angefleht hat und Zehntausende nach mir bedrängen wird, bevor es<br />

auch diesem Schemen langsam, langsam, hat er doch alle Zeit der Welt, dämmern muß ...<br />

Das also war das Schauspiel, das ich gebannt und mit gesenkten Lidern verfolgte im<br />

Zuschauerraum der Frankfurter Oper und das erklärt, wieso das Don Giovanni-Libretto von<br />

stummen Fischen vorgetragen wurde. Kurz vor dem donnernden Applaus hatte ich begriffen.<br />

Ich hatte verstanden, warum alles, was erzählen kann, rückfällig werden muß, sobald es nicht<br />

mehr erzählen will. Um der Nicht-Rückfälligen willen! Wegen der Armseligen, deren<br />

Lebensgeschichte zur Unzeit abgerissen ist wie bei den drei Verkehrstoten und die sie, die<br />

sich nicht mehr zu Ende bringen können. Man muß solche Biographien über die Köpfe der<br />

Betroffenen hinweg verlängern, vervollständigen, abrunden, damit sie nicht als<br />

Kurzschlüssige und Kurzgeschlossene, als ondermynde und Unterminierte dem nachtrauern,<br />

in das sie nicht mehr zurückkommen, sondern lebenssatt und lebensmüde nach Ausschöpfung<br />

der Denkbarkeiten das Zeitliche segnen.<br />

Hatte ich mich, hatte ich andere - Hand aufs Herz zu Mozarts Finale - ausgeschöpft?<br />

Hatte ich nicht, nein, nein, und nochmals nein. Zwei leichtsinnig gekappte Erzählstränge<br />

hingen mir aus der Tasche, zwei sich im Nebulösen verlierende Viten schleppte ich mit mir<br />

herum; meine Urgroßmutter und mein Erzeugererzeugererzeuger konnten keine Ruhe finden.<br />

Und der Schriftsteller <strong>Horstmann</strong>, der bisher erste und einzige der Sippe, der die Feder mehr<br />

schlecht als recht zu führen verstand, dieses Sprießersprossesgesproß hatte die Stirn, seine<br />

Aufgabe für erledigt zu erklären, hinzuschmeißen, sich hinter einem fiktiven Todesdatum zu<br />

verschanzen und auf Computerbildschirmen und in subventionierten Literaturmagazinen<br />

Abschied zu feiern. Foietog, my jong, sê ek, foietog, skandmaker!<br />

Ongetwyfeld, die Stunde der Selbstkritik hatte geschlagen, und beim Austritt ins Foyer<br />

stand mein Entschluß fest. Wenn die Schreibhand auch noch ruhiggestellt war, so konnte ich<br />

doch bereits Geschriebenes – Notizen, Skizzen, Unfertiges, Liegengebliebenes – unter die<br />

Lupe nehmen und sichten, konnte im literarischen Abraum nach Übersehenem und<br />

Wertvollem suchen, so wie die Halden der südafrikanischen Goldbergwerke bei<br />

Verfeinerungen der Extraktionstechnik immer noch einmal durch die Mühle gedreht werden,<br />

um neues Edelmetall zu gewinnen. In den 90ern hatte ich zur Klärung des Familienrätsels<br />

recherchiert, war herumgefahren, erstaunlich schnell auf harte Fakten gestoßen und dann<br />

urplötzlich in einer Sackgasse gelandet, in der es trotz hochtouriger Bemühungen kein<br />

Weiterkommen mehr gab. Ich attackierte das Hindernis mit heulendem Motor, bis der<br />

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