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Ein Unfall? So etwas passiert doch tagsüber, nicht abends, wenn die Kinder schon im<br />
Bett liegen. Außerdem, ich kehre zum zweiten Bild zurück, ist man bei einer längeren<br />
Krankheit doch vorbereitet, vielleicht sogar auf das Schlimmste gefaßt. Wo hast du an diesem<br />
Abend gesteckt, als der Leichnam "aufgefunden" wurde? Überstunden in der Fabrik?<br />
Spätschicht? Oder war wieder einmal 'Schicht' zwischen euch? Und wieso stimmt die<br />
Hausnummer nicht mit der Angabe im Geburtsregister überein?<br />
Etwas Mörderisches, Selbstmörderisches spukt mir durch den Kopf. Nur durch den des<br />
Nachgeborenen, durch meinen? Vielleicht hebt der Standesbeamte diejenigen, die keines<br />
natürlichen Todes gestorben sind, in seinem Register durch handschriftlichen Eintrag ab (was<br />
sich durch Rückfrage rasch verifizieren ließe). Hast du also deine Frau in die Verzweiflung<br />
und in den Tod getrieben? Das erklärte den eilfertigen Umzug, den Verlust der Arbeitsstelle,<br />
dein Verschwinden. Ist es dieses Stigma, dem du dein restliches Leben lang entkommen<br />
wolltest und das selbst nach einem Jahrhundert noch nicht verblaßt? Liefert dieses Kainsmal<br />
die Erklärung für Randständigkeit und Marginalisierung, wie man sie schon der fotokopierten<br />
Originalurkunde ablesen kann? Dann hättest du nicht vier Menschen sich selbst überlassen,<br />
sondern fünf. Dann wärst du ein Serientäter - möglicherweise bis zur Selbstaufgabe.<br />
22.3.96<br />
Frühlingsanfang in der Nachwelt. Ein schlimmer Winter, die Schneeglöckchen um Längen<br />
zurück, die Zugvögel zögerlich wie nie. Noch gut zwei Wochen bis zu jenem<br />
verhängnisvollen sechsten April, nach dem nichts mehr so sein sollte wie vorher. An dem alle<br />
Stricke gerissen sind - bis auf einen? Umbruch, Einbruch, Zusammenbruch, Vertreibung aus<br />
dem kärglichen Paradies eines Fabrikaufsehers?<br />
Vier neue Briefe: drei Fehlanzeigen und die zögerlich eingestandene Wahrheit. Das<br />
Landeskirchenamt Bielefeld läßt wissen, daß zu eventuellen Pfleg- und Vormundschaften, die<br />
deine Kinder betreffen, keine Akten zu ermitteln sind. Das Detmolder Archiv verneint deine<br />
in Erwägung gezogene Straffälligkeit: "Die hier vorliegenden Akten des Amtsgerichts<br />
Herford und des Landesgerichts Bielefeld enthalten keinerlei Hinweise auf ihren<br />
verschollenen Urgroßvater." Und aus Herford kommt die Nachricht, daß "in dem Zeitraum<br />
von 1887-1891 hier kein Sterbefall Heinrich Wilhelm <strong>Horstmann</strong> beurkundet worden ist."<br />
Bleibt nur ein letzter Ausweg, ihr letzter Ausweg. Die Beschwörung des Schattens, den<br />
Anne Marie Elisabeth Menke im Licht der Petroleumlampe geworfen haben muß, als es auf<br />
Erden keinen Schritt mehr weiterging. Als sie wieder kinderlos war, unverheiratet; als sie<br />
austrat aus allen Zumutungen, Pflichten, Verbindlichkeiten, als die letzte Nabelschnur<br />
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