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Lesen - Ulrich Horstmann

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kleinste zusätzliche Risiko auszuschließen? Im übrigen saß mir das brutal Zupackende, der<br />

Klammergriff des Opfers vom Weimarer See noch in den Knochen. Leihwagen? Diese Option<br />

durchkreuzten die anderen auf der Strecke Gebliebenen, von den überzogenen Tarifen für<br />

Ein-Weg-Fahrten einmal ganz abgesehen. Nein, man müßte ... einen Kurier finden, der den<br />

Wagen überführte, dann wären die Probleme mit einem Schlag gelöst. Vor meinem geistigen<br />

Auge hangelt sich eine Vogelspinne durch die Autotür. Ich unterbreche die Vorstellung, weil<br />

sie eine Gegenleistung fordern und prompt ihre Lieblingsidee vom Marburger Apus apus-<br />

Hospiz wieder aufwärmen würde. Nein, so komme ich nicht weiter. Eine schöpferische Pause<br />

ist angesagt. Ablenkung. Debriefing nach dem Einsatz am Schreibtisch. Danach sieht man<br />

weiter.<br />

Erstmal die Zeitung? Dies ist nicht Ellisras, dies ist nicht die takhaarwêreld, der Arsch<br />

der Welt - oder nicht ganz. Dies ist die Universitätsstadt Marburg, und die hat sich schon ein<br />

ganzes Stück an der globalen Anatomie Richtung naeltjie oder Nabel emporgearbeitet.<br />

Jedenfalls wird die Oberhessische Presse nicht müde, das Involviertsein von Stadt und<br />

Region in Landesweites, Europaweites, Weltbewegendes herauszustreichen. So auch heute<br />

unter der Überschrift "Die Kristallnächte von St. Moritz. Polizei entdeckt mobile<br />

Drogenküche. Marburger Chemiker auf der Fahndungsliste". Je mehr ich von dem Artikel<br />

lese, desto unmißverständlicher geht mir auf, daß der Griff zu den Sedativa des<br />

Provinzjournalismus mich vom Regen in die Traufe gebracht hat, weil ich jetzt noch eine<br />

Rückholaktion mehr durchzuführen habe.<br />

In St. Moritz, weiß der Verfasser im Anschluß an eine dpa-Meldung zu berichten, seien<br />

in der vergangenen Wintersaison die sogenannten Kristallnächte der absolute Renner und das<br />

Nonplusultra des ohnehin hochtourenden Amüsierbetriebs gewesen. Dieser reichlich<br />

geschmacklose, da historisch vorbelastete Begriff bezeichne exklusive und nach außen hin<br />

alles andere als ausgelassene gesellschaftliche Ereignisse, bei denen die Teilnehmer in der<br />

Mode der Belle Epoque, der Zwanziger oder Dreißiger Jahre zu erscheinen haben und auch<br />

Speisefolge und Musik auf die gewählte Periode abgestimmt sind. Hinter den honorigen<br />

Kulissen allerdings zirkuliert die in Wirklichkeit für die Namensgebung verantwortliche<br />

Designer-Droge Crystal, die auf Ephedrin-Basis von jedem halbwegs fortgeschrittenen<br />

Chemiestudenten synthetisiert werden könne. Die bekanntermaßen finanzkräftige St. Moritzer<br />

Wintersport-Schickeria - die Eintrittspreise sind horrend - hat für einen boomenden Markt<br />

gesorgt, der bald auch deutsche, französische, ja selbst polnische Anbieter anzog. Sie<br />

arbeiteten in Ferienwohnungen mit mobilen Laboratorien und lieferten sich einen erbitterten<br />

Konkurrenzkampf, was die Verfeinerung und Raffinierung der Droge anging, von der im<br />

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