Lesen - Ulrich Horstmann

schweißnasses Handtuch, beendet Samuel Beckett sein unsigniertes Dramolett mit dem
treudeutschen Titel "Eulen nach Athen".
X.
2.3.96
Ich schlitze auf. Beherzt, denn ich glaube zu wissen, was mich erwartet; die avisierte Kopie
aus dem Sterberegister, ein alter Stadtplan und das Bauherrenverzeichnis. Ich überfliege die
amtliche Verlautbarung, Ellies Exit, den Abgang meiner Urgroßmutter von der Lebensbühne
betreffend:
Schötmar 23. April 1887
Aufgrund eines Schreibens vom hiesigen Fürstlichen Verwaltungsbeamten vom 9. April
dieses Jahres ist folgender Eintrag gemacht. Die Frau Anne Marie Elisabeth Horstmann,
geborene Menke, evangelischer Religion, verheiratet mit dem Fabrikaufseher Heinrich
Wilhelm Horstmann, Tochter des Landwirts Caspar Menke und dessen verstorbener
Ehefrau Anna Marie Luise, geborene Möller, geboren zu Südlengern bei Bünde,
wohnhaft zu Schötmar, Werlsche Feldmark 190, ist am sechsten April des Jahres
tausendachthundertachtzig und sieben nachmittags um neun Uhr in ihrer Wohnung todt
aufgefunden worden.
Nebenstehender Vortrag gestrichen.
Der Standesbeamte Moritz.
Aber je länger ich die Fotokopie vor Augen habe, desto zweifelhafter wird das Bild, das
ich mir vom Ableben deiner Frau gemacht habe. Wie sich bei einem falsch eingestellten
Okular eine zweite Ansicht aus der ersten schiebt, so bin ich vom Kindbettfieber zur
Vorstellung eines langen Siechtums gekommen, zu Bettlägerigkeit, schwindenden Kräften,
einem bis an die Grenzen des Erträglichen zerdehnten Abschied: Szenario Tuberkulose oder -
schon rapider - eine Lungenentzündung ohne Zentralheizung und Antibiotika.
Nur, wenn sich alles im Rahmen des Üblichen bewegt hat - und tödliche Erkrankungen
der Atmungsorgane waren nichts Besonderes - warum ist dann der Vordruck durchgestrichen
und der Eintrag zur Gänze handschriftlich am Rand untergebracht? Und warum die
befremdliche Formulierung "nachmittags um neun Uhr in ihrer Wohnung todt aufgefunden"
statt des daneben schwarz auf weiß vorformulierten "um … verstorben sei"?
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