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Lesen - Ulrich Horstmann

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verständnisvoll, zieht ein Büchlein aus der Tasche, blättert kurz und liest dann in zwei<br />

Atemzügen vor: "Dieseshotelisteinebruchbudesiebeutelschnei derichzieheaufderstelleaus."<br />

XV.<br />

Nicht "nachmittags um neun Uhr", sondern nachts gegen halb zwölf stehe ich im Treppenhaus<br />

vor meiner Wohnungstür. Draußen auf dem Schild versinkt mein Name hinter einem<br />

blumigen Aufkleber wie die Titanic hinter ihrem Eisberg. Drinnen hat es den Flur ungleich<br />

schlimmer erwischt als das Interieur der Maschine, die mich ins Rutschen kommen ließ.<br />

Überall verstreut Kleidungsstücke, Schuhe, geöffnete oder noch versiegelte Packungen mit<br />

Labormaterial, an der Wand aufgestapelte Getränkekisten neben vereinsamten Weinflaschen<br />

und vis-à-vis eine mit veralgtem Wasser gefüllte Glasvase voller Kunstblumen.<br />

Eine böse Ahnung beschleicht mich. Aber als ich mein Arbeitszimmer über den<br />

Wäschekorb voll Post hinweg, der den Eingang blockiert, aufgeschlossen habe und<br />

eingetreten bin, finde ich alles verstaubt und unangetastet vor. Eine Dornröschenwelt, in der<br />

die vor Jahresfrist erschienene Firmengeschichte der Hoffmann's Werke ungerührt und<br />

unberührt an ihrem Platz auf dem Schreibtisch verharrt und niemand die aufgeschlagene Seite<br />

verblättert hat, die mich die Spur meines Erzeugererzeugererzeugers wieder aufnehmen ließ.<br />

Oder ist das Ganze weniger märchenhaft? Bin ich ein Wiedergänger? Abgestürzt.<br />

Uneingestanderermaßen aus allen Wolken gefallen und jetzt als Toter zu Besuch in meiner<br />

eigenen Lebensgeschichte? Ich streiche über den zusammengefalteten rotbekreuzten<br />

Deckenstoff, vergewissere mich seiner Handgreiflichkeit, stelle die Tasche darauf ab, lösche<br />

die Beleuchtung im Raum, so daß vom Flur her nur noch zwei Leuchtstreifen zwischen<br />

Türblatt und Füllung sichtbar sind, und geistere zum Stuhl. Der Staub, den ich beim Setzen<br />

aufwirbele, bestätigt mir einmal mehr, daß ich noch nicht dazu geworden bin. Draußen kühlt<br />

der Januar sein Mütchen, wedelt ein Lichtfinger über die Scheibe mit dem grauen Star. Türen<br />

schlagen. Das Klacken der automatischen Verriegelung. Wie auf Knopfdruck fällt mir auf,<br />

daß im Zimmer Transvaaler Temperaturen herrschen.<br />

"Und das Licht hast du auch nicht ausgeschaltet", sagt eine Männerstimme vom<br />

Wohnungseingang her.<br />

"Hab ich wohl!"<br />

"Und warum brennt es dann?"<br />

"Damit du weiterstänkern kannst, so wie den ganzen Abend schon, darum."<br />

Schweres wird aufgehängt. Ein paar Schuhe katapultiert es durch den Korridor.<br />

"Ich hatte ja wohl Grund genug, so läufig wie du dich aufgeführt hast."<br />

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