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Lesen - Ulrich Horstmann

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akademici, Skunkie", daß neben dem Spielbein auch das professionelle Standbein wegknickte<br />

und mich die andere, die nördliche Hemisphäre eines vernieselten Herbsttages als<br />

dienstunfähig abstempelte.<br />

Wie soll ich das erklären? Am besten so, daß ich, der sich belletristisch ein Ende gesetzt<br />

hatte, im akademischen Brotberuf nichts mehr anfangen konnte. Im, wohlgemerkt, nicht mit<br />

dem. Es war verrückt. Immer, wenn ich umschalten wollte, kam das alte Programm zurück,<br />

ging die Endlosschleife in die nächste Runde. Die eine Seminardiskussion setzte sich fort in<br />

meinem Kopf über Wochen. Ob ich wollte oder nicht, ich entdeckte mehr und mehr<br />

relevantes Material, Überlesenes, Verschüttetes. Wie eine Lawine brachen die Analogien,<br />

Assoziationen, Prätexte, Kommentare und Kommentare der Kommentare über mich herein,<br />

eine grandiose, von niemandem für möglich gehaltene Vernetzung bahnte sich an, und um sie<br />

voranzutreiben, ach was, um von ihr, dieser unaufhaltsam erst meinen Feierabend, dann<br />

meine Nächte verschlingenden Selbstläuferin vorangetrieben zu werden, klinkte ich mich aus<br />

aus dem Nebeneinander der Routinen und Aufgaben und war überkonzentriert bei der einen,<br />

immer nur einen anfangs- und endlosen Verkupplung und Verschmelzung, während meine<br />

Umwelt mich als unkonzentriert, geistesabwesend, nicht ansprechbar erlebte oder mit meinen<br />

Äußerungen, die als work in progress-Telegramme, als überkomprimierte, kodierte<br />

Kurznachrichten aus mir herausbrachen, nichts anfangen konnte. Ich ackerte, rackerte,<br />

schuftete, was das Zeug hielt, und als seine letzten Fasern verschlissen waren, trieb ich<br />

Schindluder mit meinen zerlumpten Kopien, Notizen und Notaten, die überall herumflatterten<br />

wie aufgescheuchte vlermuisies, memorierte murmelnd die schon unaussprechlichen<br />

Zwischenergebnisse und blendete mit Schreibtischgetrommel herrisch und inzwischen<br />

gänzlich unnahbar jene atmosphärischen Störungen, jenes kosmische Rauschen aus, zu dem<br />

sich die jämmerliche Gegenständlichkeit der Welt kuschend verflüchtigt hatte. Dicht schon<br />

stand es unter dem Horizont, das brenngläserne Gestirn meiner intellektuellen Synthese; und<br />

die Morgenröte einer globalen Sinnhaftigkeit und das verwehende Nordlicht der Ignoranz<br />

teilten sich den Himmel; gerade eben waren die Pupillen des inneren Auges geweitet genug<br />

für den großen Durchblick ins - Da! Da mischte sich der Störsender in die letzte, die<br />

ultimative, die metaphysische Programmvorschau und was er zu vermelden hatte mit der<br />

Unbeirrbarkeit, der stumpfen Stupidität des Automaten, war nicht ein neuer unendlich<br />

fruchtbarer Schlüsselbegriff, sondern die einfallslose diagnostische Begründung auf dem<br />

Einweisungsformular: akuter Verknüpfungswahn.<br />

Die Kollegen von der Universitätspsychiatrie walteten ihres Amtes und verschrieben<br />

Neuroleptika. Nach sechs Wochen hatte mich die Normalität wieder, nach zehn - ich konnte<br />

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