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Lesen - Ulrich Horstmann

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könne schon etwas dauern mit der juristisch abgeklärten Wahrheit. Seine Kollegen und er<br />

würden auch in sechs, acht Wochen noch fündig, darauf könne ich Gift nehmen, säuselt der<br />

Beamte und verleiht seiner Vorfreude auf die Fortsetzung unserer Kooperation "vor Ort" mit<br />

der gewohnten Verbindlichkeit Ausdruck.<br />

Der Countdown läuft auch anderswo. Als zur Abwechslung die Wohnungsklingel in<br />

Aktion tritt, ist es soweit. Vor der Tür steht ein Junge mit einem Schuhkarton. Nein, nicht der<br />

große Bruder von Justus, aber einer aus dessen Altersgruppe und mit dem Verwechselungen<br />

erleichternden uniformen Outfit.<br />

"Gleich als es passiert war, haben wir beim Nabu angerufen, weil der Vater von Tom da<br />

Mitglied ist."<br />

"Mooi so! Maar ... aber was ist Nabu, und wer ist Tom?"<br />

"Naturschutzbund", entkürzelt mein Besucher, "und Tom ist mein Freund. Und die haben<br />

uns nach Frankfurt verwiesen und die Frankfurter zu Ihnen, weil das doch viel näher ist.<br />

Können Sie ihn retten? Darf ich zusehen, wie Sie ihn retten? Bitte."<br />

Die Stunde der Prüfung, die Zeit der Bewährung. Mir wird heiß, als müßte mein<br />

Metabolismus in Windeseile ein Wasserglas Ouzo abbauen. Ich bekomme kein Wort über die<br />

Lippen, kann nicht einmal nach Lizzie rufen. Statt dessen strecke ich die Hände aus, hebe den<br />

von Luftlöchern durchbohrten Deckel vom Karton und kippe ihn nach hinten weg. Gras, mit<br />

fliegenden Händen zusammengerupft von einer Böschung, einem Bankett. Auf dem Grün<br />

schwarzes Elfenbein. Der hingestreckte Körper, überragt von den über den Rücken<br />

gekreuzten Schwingen, nur mühsam unterzubringen und wie mehrere Nummern zu groß für<br />

den Rumpf. Ich erschrecke bei dem Anblick. Liegt das Tier schon aufgebahrt? Bringt der<br />

Junge als allererstes einen hoffnungslosen Fall, einen Schwungfederspender? Beugen wir uns<br />

womöglich schon über seine sterbliche Hülle?<br />

Doppelte Aufhellung. Das Flurlicht fällt zwischen die Pappwände und auf die neue<br />

unverschnürte Marionettenbühne. Die Federn glänzen. Der Kopf des Seglers ruckt hoch, die<br />

Augen sind offen. Der Kontakt stellt sich her zwischen dem Überblick unter mir, zwischen<br />

der auf Unkraut gebetteten Schwerelosigkeit und meinem flügellahmen Ich. Betty hatte mir<br />

für das erste Mal das Blaue vom Himmel versprochen - und der übergroße Augapfel hält es,<br />

hält genau das fest: das Grenzenlose, die Luftigkeit, die Herablassung selbst noch gegenüber<br />

allem Wohlmeinenden, Hilfsbereiten, Hingebungsvollen, das sich und seiner<br />

Schwerenöternatur Auftrieb verschaffen will. Dann ist die Audienz auch schon zu Ende. Der<br />

Stromlinienkopf, der aus Natal an seinen Geburtsort zurückgefunden hat und ihm die Treue<br />

hält jahrein, jahraus, darbend oder übersatt, hochfahrend über die Dächer oder wie jetzt vor<br />

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