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dann möglicherweise auch für die Unterbringung der vier Brüder gesorgt hat. (Selbst ein<br />
Bruder meines Vaters, Onkel Paul, hat nach dem Zweiten Weltkrieg für sein Südlenger<br />
'Behelfsheim' Menkesches Bauland erworben.)<br />
In ihrem postkartengroßen Zimmer im Altenheim Maria Rast gibt die neunzigjährige<br />
Tante Martha bereitwillig Auskunft und gerät dabei unversehens in die immergleichen<br />
Erinnerungsschleifen, die sich durch wortwörtliche Wiederholungen beglaubigen und denen<br />
mein Vater und ich in Ermangelung einer unumwundeneren Streckenführung hinterherkurven<br />
wie ein Anhänger hinter einer Oldtimer-Zugmaschine.<br />
Der junge Mann auf dem Foto, heißt es, ist der Cousin. Mein Großvater, der sich später<br />
mit den Holtkamp-Kindern offenbar gut verstand, durfte bei seinen Pflegeeltern nicht mit am<br />
Tisch essen. Er nahm seine Mahlzeiten stehend am Küchenschrank ein. Danach wurde er<br />
wieder zum Rübenschneiden in den Keller verbannt. Der Lehrer soll mehrfach mit der Bitte<br />
vorstellig geworden sein, man möge der billigen Arbeitskraft wenigstens Zeit für die<br />
Schulaufgaben lassen. Oma Höfs, zu der er nach der Schulentlassung zog, war wohl auch eine<br />
Verwandte.<br />
Meine Tante sieht auch eigene Geschwister die Schulbank drücken: den skrofulösen Otto,<br />
der wegen seiner schwächlichen Konstitution oft auf der Ofenbank liegt und doch den Platz<br />
des Klassenbesten bis zu seinem Tod mit neun Jahren verteidigt. Und ihre Schwester Anni,<br />
die an Martin Luthers Geburtstag mit zwei Freundinnen zum Doberg läuft und unterwegs von<br />
einem Radfahrer angefahren und an der Hüfte verletzt wird. Daraus entwickelt sich Knochen-<br />
TB. Anni singt im Krankenhaus so schön, daß auf dem Flur alle Türen offenstehen. Schon der<br />
Lehrer hatte gemeint, die Brüder sollten dafür arbeiten, daß sie eine Gesangsausbildung<br />
bekomme. Nach einem Jahr bringt man sie Ende November 1929 - sie ist noch keine fünfzehn<br />
- zum Sterben nach Hause.<br />
Auf der Treppe, über die man sie trägt, hatte sieben, acht Jahre zuvor ein wettergegerbter<br />
alter Mann gesessen, der über seiner Suppe kaum aufzublicken wagte. Die Kinder umstanden<br />
ihn, und Tante Martha weiß noch heute, daß er keineswegs abgerissen und wie ein Bettler<br />
gekleidet war. Als mein Großvater, inzwischen als Arbeiter bei der Stadt angestellt, am<br />
Montag zum Dienst erscheint, erzählt ihm der Pförtner, sonnabends habe sich jemand nach<br />
seiner Anschrift erkundigt. Das, erklärt Friedrich Wilhelm darauf jedem, der es wissen will,<br />
war mein verschollener Vater.<br />
Wolltest du damals tatsächlich etwas auslöffeln in der Untergönnerstraße Numero 8? Und<br />
hast es nur bis zur Suppe gebracht? Tante Martha will von Amerika nichts wissen. Du seiest<br />
nach Norden gegangen, erklärt sie, kommt aber partout nicht auf das Land.<br />
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