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Lesen - Ulrich Horstmann

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holen wir zurück. Durch die Stärkelauge, die milchige Undurchsichtigkeit langen wir hin, erst<br />

tastend, dann mit dem Klammergriff der Anna Moebius, Herrin aller Luftikusse.<br />

Du hast dich also gar nicht von Herford aus in die Neue Welt abgesetzt. Du bist<br />

mindestens noch ein gutes Jahrzehnt in der Alten geblieben. Weiter um sechs Uhr durchs<br />

Werkstor hinein, weiter um sechs wieder heraus. Sechs Tage die Woche. Nur jetzt ohne eine<br />

Frau am Ende des Heimwegs, ohne Kinder auf dem Hof, ohne Zuhause. Auf dem<br />

Fabrikgelände, weiß Wiesekopsieker, gab es zwei Kasernen für ledige Beschäftigte, denn die<br />

Wohnverhältnisse im überfüllten, da aufstrebenden Badeort Salzuflen waren derart desolat,<br />

daß dort noch um die Jahrhundertwende eine Typhusepidemie ausbrechen konnte. Du bist<br />

also aus der Herforder Schlamperei zurückgezogen in einen sauberen Verschlag mit Bett,<br />

Strohsack, Keilkissen, Decken, Schrank und Nachtgeschirr, mit einem Waschsaal am Ende<br />

des Ganges und einer holzbankbestückten Kantine zur Einnahme des Mittag- und<br />

Abendessens. Alles zusammen für zwei Mark die Woche, d.h. einen knappen Tageslohn. Von<br />

dem Rest ging die Hälfte nach Südlengern an vier Pflegefamilien, die die Kinder trotzdem<br />

nach Kräften ausbeuteten und jedem, der es wissen wollte, erklärten, die 'Schötmarschen' oder<br />

die 'Katzenjungen' - den Namen des Erzeugers nahm niemand in den Mund - fräßen ihnen die<br />

Haare vom Kopf.<br />

Daß du mehr wolltest, als aus dem Unsichtbaren, dem Nichtvorhandensein heraus für<br />

deine Söhne zu bezahlen, ist dir anzusehen, auch nach einem Jahrhundert noch. Für deine<br />

Mitkasernierten und Arbeitskollegen war es ein Kinderspiel, wir Nachgeborenen müssen<br />

dafür, wie gesagt, zum Vergrößerungsglas greifen. Wir richten es aber nicht auf deine Augen,<br />

nicht auf deine Gesichtszüge, sondern auf die Hände, die auf den Knien ruhen. Links fehlt ein<br />

Stück von deinem kleinen Finger. Seine Geschichte kennen wir. Aber auf der anderen Seite<br />

findet sich dieselbe Verstümmelung. Du hast es also versucht.<br />

Schützenfestzeit, sagen wir mal, als der Karussellbesitzer, bei dem dein Zweitjüngster<br />

aufwuchs, in Kirchlengern - Südlengern allein war zu klein für solche Festivitäten - ein<br />

Heimspiel hatte. Eingedenk des siebten Paragraphen der "Kasernen-Ordnung für die Arbeiter-<br />

Kasernen der Stärkefabrik Hoffmann", der festlegt, daß "Personen, welche außer Dienst sind,<br />

sich nach 10 Uhr abends ohne Urlaub des Inspectors nicht außerhalb der Kasernen aufhalten<br />

dürfen", meldest du dich ab und kündigst deine Rückkehr kurz vor Mitternacht an, weil der<br />

letzte Zug sonntags in Herford endet und du den Rest der Strecke zu Fuß bewältigen mußt.<br />

Dann fährst du los - und verlierst kein Wort über das, was vorgefallen ist, als du schon vor<br />

dem Abendessen und bleich wie ein Gespenst wieder auftauchst, die bis dahin unlädierte<br />

andere Hand wie eingenäht in der Hosentasche, von der aus sich ein breiter roter Streifen auf<br />

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