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Lesen - Ulrich Horstmann

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Rückfall unter Kontrolle war. Unterdessen hatte Stefan Wiesekopsieker die Wissenschaft<br />

hochgehalten und wartete, sechshundertundfünfzig Seiten stark, mit Fadenheftung, reich<br />

illustriert und auch sonst erstklassig ausgestattet, postlagernd und zusammen mit weniger<br />

bedeutenden Zusendungen auf meine Rückkehr in die Normalität.<br />

Zwei Tage nach der Entlassung holte ich ihn ab, vielleicht eine Woche später - ich döste<br />

noch viel wie unter Lippischem Laudan, konnte mich nur viertelstundenweise zu<br />

zielgerichteten Aktivitäten aufraffen - packte ich den Wälzer auf den Abraum aus Australien-,<br />

Neuseeland- und Südafrika-Prospekten und fing an, darin zu blättern wie der Stubenhocker<br />

der Minivan-Truppe in seinem Märchenbuch: Stadtgeschichte Salzuflen, die posierende<br />

Unternehmer-Dynastie, dann in absteigender Linie, wie es sich gehört, Prokuristen,<br />

Buchhalter, Fabrikdirektoren, Chemiker, Comptoiristen, die Werksfeuerwehr. Gesichter,<br />

Gesichter, Gesichter - ohne die schmerzlich vermißten Gesichte. Vielleicht ist es an der Zeit<br />

auszuprobieren, wie sich Ouzo und Haldol arrangieren, denke ich und will mich eben aus dem<br />

Sessel hochdrücken, als es mich zurückwirft wie ein Messerstich in die Nasenwurzel und<br />

direkt zwischen die engstehenden Augen.<br />

Auf Seite 336 bin ich zwischen die Arbeiterschaft geraten. "Abb. 53: Belegschaft des<br />

Zentrifugenraums, 1898" lautet die Unterschrift der Fotografie. Darauf sitzen oder stehen an<br />

die achtzig Männer. Und einer davon, in der zweiten Reihe und sozusagen zu Füßen des<br />

Fabrikdirektors, der keine Arbeitsschürze trägt wie alle anderen, sondern Fliege, Weste und<br />

Jackett, einer von den Unfeinen, von den mit Stärkeresten Bekleckerten also bin - ich. Meine<br />

Kopfform, mein Mund, meine Wangenknochen, meine Nase, mein in ein über hundert Jahre<br />

altes Foto einmontiertes Gesicht über dem Gesicht meines Großvaters und Vaters, die beide<br />

ebenfalls in Erscheinung treten unter dem in die Stirn gezogenen Mützenschirm. Auch das<br />

Alter stimmt. Heinrich Wilhelm war 1898 fünfundvierzig Jahre alt, und wenn der Abgebildete<br />

nach heutigen Maßstäben wie ein Mittfünfziger wirkt, hat er das den Zwölf-Stunden-<br />

Schichten und dem, was danach für das private Unglück noch übrig blieb, zu verdanken.<br />

Sogar die Vorarbeiterposition läßt sich am Bildaufbau ablesen: Vordergrund, mittige<br />

Plazierung, direkte 'Unterordnung' gegenüber dem ins Zentrum gerückten makellosen<br />

'Leitenden'.<br />

Jetzt, Hinnak, liegt dein Ermittlungsfoto vor. Die Mittel des Zwanzigsten, wie gesagt,<br />

und die Forschungssonden und Suchmaschinen des Einundzwanzigsten. Rasterfahndung,<br />

Datenschleppnetze, Retrieval-Systeme. Keiner mehr, der durch die Lappen geht, der sich<br />

abmelden könnte aus seinen Pflichten, der auf Nimmerwiedersehen von der Bildfläche<br />

verschwindet. Durch das weiße Rauschen des Verflossenen holen wir aus, holen wir ein,<br />

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