WAGENBURGKULTUR IN DEUTSCHLAND - mit einer ... - Wagendorf
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Lebenswelt<br />
Verbesserungen (...) die wachsende Unzufriedenheit unter den Bewohnern nicht mehr<br />
abwehren“ (MEHL / DETTL<strong>IN</strong>G 1978: 13). Infolgedessen zogen im März 1972 fast alle<br />
Bewohner wieder aus der Barackensiedlung aus und weigerten sich, dem städtischen<br />
„Lösungsansatz“ Folge zu leisten.<br />
Um den kognitiven Hintergrund 35 dieses gescheiterten Versuchs zu beleuchten, scheint<br />
es angebracht, dem Sprachduktus des damaligen Sozial- und Jugendamtleiters (Herr Flamm)<br />
kurze Aufmerksamkeit zu schenken. „Zu den Sozialisationsvoraussetzungen gehört<br />
insbesondere zunächst auch die Überwindung tradierter Vorstellungen. Begriffe der<br />
Zivilisation, der Eigentumsordnung, der Familienordnung, usw. müssen erst entwickelt<br />
werden. So hat die Sozialisation durchaus auch andere Akzente als jene der Resozialisation<br />
von anderen Gefährdeten- und Nichtsesshaftengruppen. Für die Entwicklung solcher neuer<br />
Vorstellungen scheint die siedlungsmäßige Zusammenfassung der Zigeuner und Landfahrer<br />
in <strong>einer</strong> besonderen Siedlung durch bessere Einwirkungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten<br />
und planmäßige Sozialisationshilfen Vorteile zu haben.“ (MEHL / DETTL<strong>IN</strong>G 1978: 12). Eine<br />
vorsichtige Deutung dieses Leitgedankens führt zu der Annahme, dass kulturelle Assimilation<br />
als Ziel <strong>mit</strong> den Bedingungen der Sesshaftmachung verknüpft wurde. „Sozialisation“,<br />
„Entwicklung“ und „Zivilisation“ entfalten ihre Wirkung durch die Beendigung eines mobilen<br />
Lebensstils, wodurch auch staatliche Überwachungs- und Steuerungsmechanismen eine<br />
effektivere Anwendung finden können. Der Auszug der Betroffenen quittierte jedoch die<br />
monistische Kulturvorstellung der administrativen Entscheidungsträger.<br />
Im Folgenden hielt man weiter am Konzept der Sesshaftmachung fest und prüfte<br />
verschiedenste im-mobile Konzepte, wie den Umbau <strong>einer</strong> ehemaligen Artilleriekaserne<br />
(Elsässerstraße) oder die Streuung der einzelnen Familien im Stadtgebiet. Schließlich<br />
entschied man sich für ein bundesdeutsch erstmaliges Konzept unter dem Schlagwort<br />
„wurzeltiefe Integration“. 140 Wohneinheiten entstanden in un<strong>mit</strong>telbarer Nähe zur<br />
Kiesgrube an der damaligen äußersten Peripherie der Stadt. Ein sozialpädagogisches<br />
Betreuungszentrum wurde errichtet (Haus Weingarten), Ganztagesbetreuung für Kinder<br />
eingerichtet, Integrationshilfegruppen für Erwachsene aufgestellt, finanziert durch<br />
kommunale Gelder und Zuschüsse von Land und Bund (1973-1977).<br />
Heute leben in Freiburg circa 80 Familien der Sinti-Ethnie, meist dezentral über das<br />
Stadtgebiet verteilt, zentralisiert um das Haus Weingarten, sowie auf zwei Wagenplätzen<br />
außerhalb der Stadt. 36<br />
35 Als Beweis für die kognitive Stigmatisierung sei hier noch ein Beitrag aus dem Feuilleton<br />
der Frankfurter Allgemeine Zeitung aus dem Jahre 1980 beigefügt: „Nicht, daß im Laufe der<br />
Zeit noch nie versucht worden wäre, dieses Nomadenerbe zu bewältigen und den Zigeunern<br />
unsere Vernunft beizubringen. (...) Die zweite Frage, woher denn die Zigeuner kamen, hat<br />
von Anfang an mehr ihre Wirtsvölker beschäftigt als sie selbst. (...) ihre Wasserscheu (...) ein<br />
Menschheitsfossil nahe der Stufe der Sammler stehengeblieben bis in die Atomzeit.“ (FAZ<br />
08.03.1980: 17)<br />
36 Quelle: Gespräch <strong>mit</strong> Prof. Dr. Matter (Ethnologie Universität Freiburg) 03.04.06.<br />
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