Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Streitbarer Materialismus? 611<br />
Rethels Liquidation der Erkenntnistheorie durch den mechanischen<br />
Maximalismus der „Warenform-Denkform"-These.<br />
Weniges zur weiteren Illustration:<br />
„Traditionell behauptet der Materialismus in seiner wissenschaftlichen<br />
<strong>Argument</strong>ation, daß die Materie primär ist und daß das Leben<br />
und das Bewußtsein später erschienen sind. Aber das Durcheinander<br />
eines solchen Standpunktes besteht darin, daß er die Materie vor solcher<br />
forschenden Tätigkeit sieht und physikalische Modelle erstellt,<br />
aus denen Homunkulus sprechen müßte" 3 .<br />
Diese Kritik ist erschlichen und überträgt mechanisch-materialistische<br />
Materialismusideen auf den Materie-Begriff der materialistischen<br />
Dialektik. Bürgerliche Mutmaßungen über die materialistische Erkenntnistheorie<br />
sind vergleichbar verständnislos, wénngleich naiver 4 .<br />
Subtiler der Antimarxismus des „marxistischen" Antimaterialismus.<br />
Seit der sozialistisch-neukantianischen Verzichtserklärung auf<br />
den Materialismus — gekoppelt mit der Dequalifikation des historischen<br />
Materialismus zur bloßen positivistischen Gesellschaftsanalyse<br />
oder (so etwa Max Adler, der Austromarxist) zur „Soziologie" — hält<br />
sich eine „kritisch-marxistische", in Wahrheit marxismus<strong>kritische</strong>,<br />
sich offen oder verdeckt auf Kant stützende gegen Marx, verbal gegen<br />
Hegel gerichtete Strategie bürgerlicher Ideologie durch, die den Ma-<br />
3 R. Supek, in: Materialien zum Symposion „Die Dialektik und die<br />
moderne Naturwissenschaft". Sammelband. Moskau 1966, S. 84 (russ.).<br />
4 <strong>Das</strong> „Philosophische Wörterbuch" von M. Apel (5. Aufl. in Bearbeitung<br />
v. P. Ludz, Berlin 1958) erwähnt unter „Erkenntnistheorie" weder<br />
die antike noch die neuzeitliche und marxistische Tradition der Erkenntnistheorie.<br />
Unter „Abbildtheorie" heißt es ohne jegliche Begründung: „die<br />
Erkenntnisse spiegeln die Wirklichkeit nur wider. Dieser ,naive Realismus'<br />
des natürlichen Bewußtseins wird von der .<strong>kritische</strong>n' Erkenntnistheorie<br />
bestritten". <strong>Das</strong> Fischer-Lexikon „Philosophie" (Hg. v. A. Diemer /<br />
I. Frenzel, Frankfurt/M. 1967) erklärt die „erkenntnistheoretischen Abbildtheorien"<br />
für „identisch mit den entsprechenden Wahrheitstheorien" und<br />
verbindet diese unsachgemäße Identifizierung mit dem knappen Hinweis<br />
auf einen „korrigierten naiven Realismus, wie ihn traditionell die (Neu-)<br />
Scholastik, aber auch — meist weniger kritisch — der Marxismus bzw.<br />
der .sozialistische Realismus' zeigen. Dieser verwendet wieder eine Reihe<br />
von schillernden Begriffen, wenn er lehrt, Erkennen sei eine .Spiegelung',<br />
ein .Abbilden', ein ,Kopieren' (Lenin) der — letztlich materiellen — Realität"<br />
(S. 33). Selbst das begriffsgeschichtliche „Historische Wörterbuch der<br />
Philosophie" (Hg. v. J. Ritter, B. I, Stuttgart/Basel 1971) verzeichnet unter<br />
.Abbildtheorie' die des Marxismus in zwei Zeilen. I. Fetscher unterschlägt<br />
den materialistischen Ansatz der marxistischen Erkenntnistheorie und begründet<br />
den „Erkenntnisoptimismus von Marx" allein aus der Revolutionstheorie.<br />
Statt der von Fetscher beanspruchten „Dokumentation" des Marxismus<br />
und seiner Erkenntnistheorie die Schlußfolgerung: „Die primitive<br />
Engeische (aber auch Leninsche) Abbildtheorie ist völlig ungeeignet, die<br />
spezifische Einheit von Denken und Sein in der selbstbewußten Aktion des<br />
Proletariats zu erfassen" (I. Fetscher. Der Marxismus. München 1967,<br />
S. 197).<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©