Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Soziologie 721<br />
Wenn also die Psychoanalyse als Kritik zivilisatorischer Lebensbedingungen<br />
nicht symmetrisch zur Kritik der politischen Ökonomie<br />
zu verstehen ist, so kann sie, nach Milhoffer, doch den in der Familie<br />
vorhandenen strukturellen Zusammenhang analysieren. Die Frage,<br />
ob dies eine materialistische Psychologie, vgl. Hiebsch/Vorweg, Rubinstein,<br />
kürzlich auch Sève oder der Versuch A. Lorenzers, die<br />
Freudsche <strong>Theorie</strong> auf ihren materialistischen Kern zu reduzieren,<br />
nicht auch leistet, stellt die Autorin nicht.<br />
Empirische. Untersuchungen, die im wissenschaftstheoretischen<br />
Kontext von Milhoffers Arbeit liegen, also historisch-materialistische<br />
oder psychoanalytische Untersuchungen zur familialen Situation, liegen<br />
kaum vor. Insbesondere in der Darstellung der aktuellen Situation<br />
muß die Autorin deshalb wesentlich auf Material zurückgreifen,<br />
das aus einem anderen theoretischen Zusammenhang stammt (aus<br />
dem Statistischen Jahrbuch, Berichte der Bundesregierung und Analysen<br />
von Neidhard, Pfeil u. a.). Sie versucht zwar aus diesem Material<br />
für ihre Fragestellung Ergebnisse zu gewinnen, einerseits gibt<br />
das Material dafür kaum etwas her, andererseits erliegt Milhoffer<br />
auch gänzlich den Details der empirischen Untersuchungen. So wenn<br />
sie feststellt, daß protestantische Hausfrauen häufiger eine Schulausbildung<br />
haben als katholische, daß Protestanten häufiger der Mittelschicht<br />
angehören als Katholiken, „ferner erstere häufiger in Städten<br />
und Stadteinzugsgebieten, letztere mehr in ländlichen Regionen beheimatet<br />
sind." (96) Hier liegt wohl näher, die durch die Stadt-Land-<br />
Trennung bedingten Unterschiede zur Interpretation heranzuziehen<br />
als bloß die Religionszugehörigkeit.<br />
Die an den empirischen Teil anschließende Untersuchung der familialen<br />
Sozialisationsfunktionen, die eine materialistische Anbindung<br />
dieser Funktionen an den Produktionsprozeß versucht— „Der Sozialisationsprozeß<br />
ist vordringlich von der Form materieller Tätigkeit,<br />
nicht von geistigen Prozessen, symbolischer Aktion und Reflexion an<br />
sich gesteuert" (115) —, verknüpft dann wieder Ergebnisse der materialistischen<br />
und psychoanalytischen Familienforschung. Es wird<br />
deutlich, daß entgegen dem subjektiven Empfinden auch die menschlichen<br />
Beziehungen in der Familie durch die kapitalistische Aneignungsform<br />
bestimmt ist. Diese Art der familialen Beziehung wird<br />
nicht zuletzt von den ideologieproduzierenden Massenmedien kaschiert,<br />
z. B. in Familienserien u. ä. Familiale Sozialisation trägt so<br />
dazu bei, die Erfahrung des gesellschaftlichen Widerspruchs nicht in<br />
politisches Handeln umzusetzen,sondern zu umgehen und als individuelles<br />
Problem anzusehen, die Familie als frei von kapitalistischen<br />
Zwängen zu empfinden und sie als Enklave zum Rückgang von den<br />
Ansprüchen der Arbeitswelt zu begreifen.<br />
Es wäre allerdings idealistisch, von einer Veränderimg der familialen<br />
Situation die Veränderung des kapitalistischen Gesellschaftssystems<br />
zu erhoffen. Milhoffer will lediglich zeigen, „daß die Grenzen,<br />
die familiale Erziehung gesellschaftlicher Bewußtwerdung und<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©