Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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608 Hans Jörg Sœndkiihler<br />
meint, als die sinnliche Realitätsaneignung „bildhaft" zu umschreiben,<br />
wird „zum Hemmschuh". Ob Erkenntnis widerspiegelt, ist nur im<br />
Praxis-Kontext erklärbar. „Uber die Erkennbarkeit oder Nichterkennbarkeit<br />
der Dinge zu streiten oder gar wie Sandkühler davon zu sprechen,<br />
daß die Materie „auf Erkennbarkeit hin angelegt" sei, ist nutzlos...<br />
Zweitens ist die Frage, ob die Welt erkennbar sei oder nicht, wenig<br />
erhellend" (S. 565).<br />
— Materialistische Erkenntnistheorie widmet sich deshalb dem Problem<br />
der Schwierigkeiten der Erkenntnis, der Differenz von Wesen und<br />
Erscheinung, und diese Differenz ist eine der Tatsachen selbst, nicht<br />
des Bewußtseins. <strong>Das</strong> praktische menschliche Wissen „widerspiegelt nur<br />
die Antwort der Dinge auf praktisch interessierte Fragen der Menschen;<br />
aber es ist eben doch die Antwort der Dinge" (S. 567).<br />
— Die Praktikabilität der Erkenntnis ist keine Erkenntniseigenschaft<br />
schlechthin, sondern ergibt sich aus deren Lebensnotwendigkeit.<br />
— Scholastische Scheinprobleme der Erkenntnistheorie können und müssen<br />
unterlaufen werden, „wenn man vom Standpunkt des gesellschaftlichen<br />
Lebensprozesses an die Sache herangeht. Im Alltagsleben wird<br />
massenhaft die zweifelsfrei gewisse Erfahrung gemacht, daß bestimmte<br />
Erkenntnisse lebensnotwendig sind und daß es einen lebenswichtigen<br />
Unterschied zwischen richtigen und falschen Erkenntnissen<br />
gibt" (S. 568).<br />
— „Erkennen muß dargestellt werden als notgedrungenes Zugehen des<br />
Menschen auf die Natur, nicht als Naturgabe, d. h. als Zugehen der<br />
Natur auf den Menschen; wie ja der „Stoffwechsel des Menschen mit<br />
der Natur" durchaus einseitig ist — der Mensch ist darauf angewiesen,<br />
die Natur nicht" (S. 568).<br />
— „Die Notwendigkeit des Denkens gründet in der des Brotes. Damit<br />
Lebensmittel erzeugt werden können, muß die Natur erkannt werden,<br />
muß das Wissen über unsere bloß subjektiven Vorstellungen hinausgehen,<br />
in den inneren Bau ... der Realität, wie sie außer uns und von<br />
sich aus ist, eindringen" (S. 569).<br />
— Die materialistische Erkenntnistheorie kann sich nicht als „Spezialfach<br />
absondern" und ist — Haug kritisiert K. Gößler — keine Aufgabe nur<br />
für Spezialisten. Ihre Hauptaufgabe ist die Kritik der Genesis der von<br />
der Handarbeit getrennten Kopfarbeit. „Sie fördert die Wiederaneignung<br />
der entfremdeten ideellen Produktion durch die materiellen Produzenten"<br />
(S. 571).<br />
Über diese von Haug angesprochene Funktion der Erkenntnistheorie,<br />
d. h. ihre ideologische weltanschauliche Bedeutung, kann es keinen<br />
Dissens geben. Aber gerade weil die Erfüllung dieser Verpflichtung<br />
von Bedingungen abhängt, und weil Haugs einseitige Begründung<br />
der Erkenntnis aus Praxis — und damit eben aus jener Realität, die<br />
Erkenntnisobjektivität bis in den Käpitalismus vielfältig verhindert<br />
— diese Bedingungen theoretisch nicht erfüllt, ist Kritik notwendig.<br />
Was Haug zu gering schätzt, scheint mir zu sein: daß der Sozialismus<br />
unserer Zeit — gekennzeichnet nicht zuletzt durch die wissenschaftlich-technische<br />
Revolution und die Bedeutung der Produktivkraft<br />
Wissenschaft — wissenschaftlicher Sozialismus ist und nicht spontane<br />
Reaktion auf „die" Produktionsverhältnisse. Die materialistische Er-<br />
D AS ARGUMENT 92/1975 ©