Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Streitbarer Materialismus? 605<br />
flexibel der Veränderung aus und analysiere nicht Veränderung<br />
systematisch in der Form des veränderten Systems; berechtigter<br />
Anti-Dogmatismus schlägt hier um in eine neue (alte) Qualität.<br />
Korschs Forderung zur nicht gegebenen Zeit kommt in Erinnerung,<br />
des Proletariats Aufgabe sei, sich schleunigst in Klassenlosigkeit zu<br />
liquidieren, auch vor seiner geschichtlichen Stunde. Hier wie im<br />
Editorial zu Nr. 90 wird eine gefährliche Alternative konstruiert: die<br />
zwischen „entscheidenden Fragen hinsichtlich des Seins und Sollens<br />
ideeller Produktion" und .„philosophischer' Abstraktheit und spezialistischer<br />
Absonderung der Erkenntnistheorie". Diese Alternative<br />
ist gefährlich, weil bei gleich welcher Entscheidung für gleich welche<br />
der getrennten Seiten die Einheit von Wissenschaft und Weltanschauung<br />
zerstört wird. Wird die „Konkretheit" einzelwissenschaftlicher<br />
Anwendung der Widerspiegelurigstheorie so nachdrücklich<br />
gelobt, dann um den Preis der Kritik an der „Abstraktheit" von<br />
Allgemein- und Gesetzesaussagen der Philosophie. Philosophie =<br />
Philosophie, Abstraktheit = Abstraktheit. Die Formel ist verführerisch,<br />
aber falsch. Zwischen toter und verständiger, geltender und<br />
wirksamer analytischer Abstraktion gähnt die Kluft zwischen Metaphysik<br />
und Materialismus. Noch einmal, weil es entscheidend wichtig<br />
ist: die Stabilität, Objektivität und Erkenntnissicherheit und Handlungsnormierung<br />
durch die wissenschaftliche Weltanschauung steht<br />
und fällt mit dem Systemcharakter ihrer wissenschaftlichen Basis.<br />
Systemunlust führt in den Historismus und Agnostizismus relativistischer<br />
Ideologeme.<br />
Darüber hinaus kann es auch nach Wiederholung noch keineswegs<br />
„einleuchten, daß die Beantwortung der Grundfragen materialistischer<br />
Erkenntnistheorie am Exempel der Kritik der politischen<br />
Ökonomie" der richtige Weg sei. Ergebnis solcher falscher Beispielhaftigkeit<br />
— die Falschheit liegt nicht im Beispiel, sondern in dessen<br />
Verabsolutierung — ist, was stutzig machen muß: Die Debatte werde<br />
„im Nebel steckenbleiben, wenn nicht ergänzend vor allem die Funktion<br />
ideologischer bzw. theoretischer Auseinandersetzungen im Antagonismus<br />
der Klassen analysiert wird. <strong>Das</strong> Thema ideologischer<br />
Klassenkampf' gehört deshalb zu den Desideraten im Redaktionsprogramm<br />
unserer Zeitschrift". Wozu Ergänzungen fordern, wenn<br />
von nichts anderem die Rede ist? Wer die Widerspiegelungs-Diskussion<br />
außerhalb vom ideologischen Klassenkampf verortet glaubt,<br />
jnuß einen Materialismus vor Augen haben, dessen praktischer revolutionärer<br />
Charakter erst dann verwirklicht ist, wenn der Materialismus<br />
aufhört, <strong>Theorie</strong> zu sein. Den Materialismus in Praxis überführen<br />
heißt aber wohl nichts anderes, als die <strong>Theorie</strong> anzuwenden;<br />
heißt niemals, <strong>Theorie</strong> in Praxis aufzulösen. Stalinismus wird beschworen<br />
— immerhin im Zusammenhang einer Debatte mit zumindest<br />
nachstalinschen Marxisten, die in der Tat weniger Aufwand mit<br />
Stalins Hinterlassenschaft treiben als mit der lebendigen Weiterentwicklung<br />
des Marxismus-Leninismus. Die Forderung der Redaktion<br />
— immerhin in der Widerspiegelungsdiskussion erhoben — „Die<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©