Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Streitbarer Materialismus? 617<br />
sehen Dialektik als Prozeßtheorie 10 . So stellt sich ihm die Scheinalternative<br />
„Dualismus oder Identitätsphilosophie", die in der Lukâcs-Schule<br />
(etwa bei F. Jakubowski) zugunsten der These entschieden<br />
wird, „die gesellschaftliche Wirklichkeit erkennt sich selbst".<br />
Der materialistische Begriff „Widerspiegelung" gründet aber bewußt<br />
in der dialektisch-ontologischen Unterscheidung (nicht Trennung!)<br />
von Sein und Bewußtsein. Dazu Lenin:<br />
„<strong>Das</strong> Bewußtsein widerspiegelt überhaupt das Sein — das ist eine<br />
allgemeine These des gesamten" (auch vordialektischen, „anschauenden")<br />
„Materialismus". Für den Materialismus des marxistischen<br />
bewußten Historismus folgt freilich „daraus, daß die Menschen als bewußte<br />
Wesen in gesellschaftlichen Verkehr treten, ... keineswegs,<br />
daß das gesellschaftliche Bewußtsein mit dem gesellschaftlichen Sein<br />
identisch ist. Wenn die Menschen miteinander in Verkehr treten,<br />
sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten Gesellschaftsformationen<br />
— und insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaftsformation<br />
— nicht bewußt, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich<br />
daraus bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw." (LW<br />
14, S. 326). Denken und Sein sind unterschieden in der Einheit des<br />
Seins, potenziert unterschieden in der widersprüchlichen Einheit des<br />
gesellschaftlichen vorsozialistischen Seins.<br />
Mein Bestehen auf dem Materialismus der Widerspiegelungstheorie<br />
blendet nicht aus, daß „das Bewußtsein ... von vornherein ein<br />
gesellschaftliches Produkt (ist) und bleibt, solange überhaupt Menschen<br />
existieren" (MEW 3, S. 30). Aber Materialismus ist gerade in der<br />
geschichtlichen Perspektive des sozialen Prozesses mehr als eine historistische<br />
„Praxis"-Konzeption. „Außenwelt" ist kein objektivistisch<br />
einsetzbarer Ersatz für „Dialektik" von gesellschaftlicher Praxis und<br />
Erkenntnis. „Außenwelt" determiniert qua materiell-gegenständliche<br />
und soziale Voraussetzung der Erkenntnis 11 . Dies vorausgeschickt,<br />
kann es kein Mißverständnis über die Funktion des Materie-Begriffs<br />
mehr geben.<br />
Lenins Feststellung, daß „das Bewußtsein ein innerer Zustand der<br />
Materie ist" (LW 14, S. 79), korrespondiert widerspruchslos jener<br />
zweiten, daß bei einer undialektischen Identifizierung von Materie<br />
und Bewußtsein „die erkenntnistheoretische Gegenüberstellung von<br />
Materie und Geist" ihre Bedeutung verlöre. Allein im gnoseologischen<br />
Verhältnisfeld „Subjekt-Objekt" sind Psychisches und Physisches<br />
qualitativ unterscheidbar; in der psychischen Tätigkeit der Wider-<br />
10 Stellvertretend G. Lukâcs: er moniert Engels' Aussage, die Begriffe<br />
seien „Abbilder der wirklichen Dinge" (MEW 21, S. 292 f.), mit dem vermeintlich<br />
konkurrierenden Hinweis auf den Prozeß der Materie; „wenn<br />
es aber keine Dinge gibt — was wird dann im Denken .abgebildet'?" L.<br />
schlußfolgert, „in der Lehre vom .Abbild' objektiviert sich theoretisch die<br />
... Dualität von Denken und Sein". (Geschichte und Klassenbewußtsein,<br />
S. 218/219).<br />
11 Vgl. dazu: Zwei Determinationsfaktoren der Widerspiegelung: Zur<br />
materiell-psychischen und historisch-genetischen Grundlage der Erkenntnis.<br />
In: H. J. Sandkühler, a.a.O. S. 196—213.<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©