Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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1 Besprechungen<br />
Vereinigten Staaten die erste Phase der Hochindustrialisierung begann,<br />
setzte zugleich ein Konj unkturzyklus ein, der während der folgenden<br />
dreißig Jahre dreimal von stürmischer Hausse in tiefste Depression<br />
führte. Massenhafte Kapitalvernichtung in der Industrie und<br />
immense Absatzschwierigkeiten der Landwirtschaft kennzeichneten<br />
1873—1879, 1882—1885 und 1893—1897 die wirtschaftliche Situation<br />
in den Vereinigten Staaten. Es waren jedoch nicht allein die katastrophalen<br />
Folgen der Depression, die Krisenängste stimulierten;<br />
die Zweifel an der Stabilität der amerikanischen Sozial- und Wirtschaftsverfassung<br />
wurden zusehends radikaler, als zwei säkulare Entwicklungen<br />
ins Bewußtsein traten. Zum einen zerstörte die rapide<br />
Konzentrationsbewegung, die die industrielle Revolution begleitet<br />
hatte, die Illusionen über den ökonomischen Liberalismus. Und zum<br />
anderen rief der Zensus von 1890, der das Ende der kontinentalen Expansion<br />
dokumentierte und die Schließung der „Frontier" — des<br />
vielbeschworenen sozialökonomischen Sicherheitsventils — verkündete,<br />
eine panikartige Stimmung hervor. Im Spektrum der öffentlichen<br />
Meinung verdichteten sich diese Faktoren und die heftigen<br />
Klassenkonflikte der achtziger und neunziger Jahre zum Trauma,<br />
zur Vision einer um ihre „Manifest Destiny" betrogenen, von sozialen<br />
Gegensätzen erschütterten und von bürgerkriegsähnlichen Unruhen<br />
heimgesuchten Gesellschaft. Nachdem ihnen die Geschichts- und<br />
Politikwissenschaft (Strong, Burgess, Fiske, Hosmer et al.) einen<br />
ganzen Kanon missionarischer Motive (darunter die Providentia<br />
Americana, der schicksalhafte Sendungsauftrag der Vereinigten<br />
Staaten) als Legitimationshilfe präsentiert hatte, einigten sich die<br />
maßgeblichen amerikanischen Unternehmer, Publizisten und Außenpolitiker<br />
binnen weniger Jahre auf den expansionistischen Ausweg<br />
aus der Überproduktionskrise. Wenn es der Außenpolitik der Vereinigten<br />
Staaten nicht gelänge — so prophezeiten sie —, äußere<br />
Märkte für überschüssige Waren und neue Anlagesphären für Surplus-Kapitalien<br />
zu erschließen, so sei nicht nur die Prosperität der<br />
amerikanischen Gesellschaft, sondern am Ende auch die Wirtschaftsund<br />
Sozial Verfassung des Landes — schlicht: das „free enterprise" —<br />
in Gefahr. In diesem Kontext, den der Autor aus einer geradezu überwältigenden<br />
Materialfülle — amtliche Akten, Kongreßdebatten, private<br />
Nachlässe und publizistische Quellen — herauspräpariert und als<br />
„Sozialimperialismus" bezeichnet, wird eine fatale Schwäche des neueren<br />
nicht-marxistischen imperialismustheoretischen Ansatzes offenbar,<br />
den er exemplarisch vertritt: Da er nicht scharf genug zwischen<br />
den ideologischen Motiven und den ökonomischen Funktionen des Expansionismus<br />
unterscheidet, übersetzt er die Rhetorik der amerikanischen<br />
Außenpolitik in die Reduktion des Imperialismus auf seine<br />
„sozialimperialistischen" Komponenten. Dagegen ist festzuhalten, daß<br />
die Wortführer der amerikanischen Expansion eher einem theoretischen<br />
Legitimationszwang als einem sozialen Zugzwang folgten, als<br />
sie jenes außenpolitische Dogma formulierten, wonach im Warenund<br />
Kapitalexport die einzige Garantie für die Stabilität der amerikanischen<br />
Gesellschaft liegt. Und dieser Legitimationszwang resul-<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©