Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Streitbarer Materialismus? 615<br />
ken mitnichten in identischen Abbildern (S. 567). Die „Dinge" zum<br />
Sprechen zu bringen, ihr Geheimnis aus der Vergegenständlichung,<br />
aus der Fetischwelt der Waren im Kapitalismus ausplaudern zu zwingen,<br />
— dies nannte Marx die Aufgabe der Wissenschaft. Erscheinung<br />
ist die Sprache der „Dinge" im Kapitalismus; nicht aber spricht, was<br />
wesentlich ist, wenn nicht in der Sprache der Wissenschaft. So wird<br />
im Kapitalismus — Haug unterscheidet hier die antagonistischen Systeme<br />
leider nicht — nirgends im spontanen Alltagsbewußtsein, „im<br />
Alltagsleben ... massenhaft die zweifelsfrei gewisse Erfahrung gemacht,<br />
daß bestimmte Erkenntnisse lebensnotwendig sind und daß es<br />
einen lebenswichtigen Unterschied zwischen richtigen und falschen<br />
Erkenntnissen gibt" (S. 568). Rationalistischer Optimismus kann<br />
nicht darüber hinwegtäuschen: in der BRD verfügt nicht die Arbeiterklasse<br />
über die lebensnotwendigen Produktionsmittel; Arbeiterbewußtsein<br />
ist nicht schon Klassenbewußtsein; bürgerliches Alltagsklassenbewußtsein<br />
führt nicht zu „zweifelsfrei gewissen" richtigen<br />
Einsichten und über die Froschperspektive des „Die da oben/wir<br />
da unten" hinaus. Die „Dinge antworten", wie sie für das falsche<br />
Bewußtsein sind, nicht wie sie sind unter Angabe ihrer Negation.<br />
Verführerisch ist, das unser individuelles Bewußtsein ungemein<br />
belastende Problem der Anerkennung der materiellen Einheit — der<br />
mein Sein und mein Bewußtsein umgreifenden Einheit der Materie<br />
— mit Federstrichen zu eliminieren. Der materialistische Monismus<br />
ist eine der schwierigsten Anerkennungsfragen für jeden. Die theoretische<br />
Erkenntnis, daß der materialistische Monismus wahr ist, weil<br />
der Realität widerspiegelungsentsprechend, ist noch fern dieser Anerkennung.<br />
Aber nicht erst das „praktisch interessierte" Erkennen ist<br />
fähig, die objektive Erkennbarkeit der Welt zu begreifen. Es ist ein<br />
historisch-logischer Anachronismus, die Frage der Erkennbarkeit<br />
der Welt auf die Problemkapazität des unmittelbaren praktischen Bewußtseins<br />
zu reduzieren (S. 565). Die dialektische und gnoseologische<br />
wissenschaftliche Antwort auf diese Frage muß nicht erstritten werden;<br />
der logische Topos „Erkennbarkeit der Welt" ist längst ein „Fazit",<br />
„Schlußfolgerung aus der Geschichte der Erkenntnis der Welt"<br />
(Lenin); ein Fazit, das freilich nicht sozial- und klassenunspezifisch<br />
gilt; „über die Erkennbarkeit oder Nichterkennbarkeit der Dinge zu<br />
streiten oder gar wie Sandkühler davon zu sprechen, daß die Materie<br />
,auf Erkennbarkeit hin angelegt' sei, ist nutzlos" (S. 565) nur für<br />
Olympier. Der Streit um diese Frage ist ideologischer Klassenkampf.<br />
Die Behauptung der logischen Qualität des Bewußtseins als logischer<br />
Qualifikation der Materie über das anorganische und organische<br />
Niveau hinaus ist die Behauptung der heute möglichen Wahrheit des<br />
Denkens und keine Marotte des gnoseologischen oder ontologischen<br />
Fachidioten. Wer wie Haug mit Lenin der Erkenntnistheorie die Aufgabe<br />
stellt, zu erklären, „auf welche Weise das Wissen aus Nichtwissen<br />
entsteht" (LW 14. S. 96 / Haug S. 560), sollte eine allseitige dialektische<br />
und historisch-praktische Erklärung nicht unterbinden; der<br />
wird Haug mit Lenin am unlösbaren System der Beziehungen von<br />
(nicht nur historischem) Materialismus und Abbildtheorie festhalten<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©