Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Wider den bloß verbalen Materialismus 691<br />
änderungsmächtigen Weltanschauung der Massen geworden ist und<br />
die als solche zur einzig möglichen Alternative wurde a) zur bürgerlichen<br />
Ideologie, b) zur Herrschaft der Bourgeoisie".<br />
Sehen wir ab von dem Mysterium, wie eine Wissenschaft die Alternative<br />
zur Herrschaft der Bourgeoisie sein soll. Es bleiben noch<br />
genug Mysterien des mit sich selbst nicht ins Reine kommenden<br />
Denkens. Da tritt Wissenschaft auf, also bestimmte Erkenntnis, die<br />
durch Anerkennung ihrer eignen Objektivität zur veränderungsmächtigen<br />
Weltanschauung der Massen wird. Man gewinnt als Leser<br />
unwillkürlich den Eindruck, diese sich selbst als objektiv anerkennende<br />
Wissenschaft spare sich durch diese Abkürzung die Anstrengung,<br />
wissenschaftliche Erkenntnis der Objektivität zu sein. Schließlich<br />
mußten die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und damit<br />
das Verhältnis von Sein und Bewußtsein in ihr analysiert sein, damit<br />
der Sozialismus aus einer Utopie zur Wissenschaft entwickelt werden<br />
konnte. Durch bloße Anerkennungsakte war dieser Weg nicht zurückzulegen.<br />
Wiederum mußte die Klassengrundlage des Sozialismus<br />
und die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse erkannt und, auch<br />
für Angehörige anderer Klassen, in Gestalt eines politisch-organisatorischen<br />
Führungsanspruchs anerkannt werden. Auf dem Felde<br />
der Politik wie überhaupt in den zwischenmenschlichen Beziehungen<br />
hat der Begriff der Anerkennung sein Recht und seinen Gegenstand.<br />
Auch der Unterschied zwischen fides und confessio, also zwischen<br />
Überzeugung und Lippenbekenntnis, kann es nahelegen, daß der Begriff<br />
einer öffentlichen Anerkennung bestimmter Erkenntnisse aktuell<br />
wird. In diesem Sinne verdient es alle Anerkennung, daß Sandkühler<br />
das für richtig Erkannte trotz sich wieder verschärfender<br />
antikommunistischer Hexenjagd öffentlich als richtig anerkennt.<br />
Als erkenntnistheoretisches Postulat ist die „Anerkennung" dagegen<br />
nicht unproblematisch. Mit dem Vorrang der Anerkennung vor<br />
der Erkenntnis hält die Konfessionalisierung Einzug und schwindet<br />
die Wissenschaftlichkeit. Im Begriff der Einsicht dagegen ist beides<br />
aufgehoben, Erkenntnis wie Anerkennung mit grundlegender Stellung<br />
der Erkenntnis. Im Gegensatz zur Einsicht bringt übergeordnete<br />
Anerkennung den Dezisionismus mit sich. Dann wäre es subjektive<br />
Entscheidung, wodurch „die Grundfrage zugunsten der Materie<br />
beantwortet" ist, um Sandkühlers Worte zu gebrauchen, die<br />
eher einer ontologischen Diplomatie als dem dialektischen Materialismus<br />
entstammen. — Da nun meinem Aufsatz Was soll materialistische<br />
Erkenntnistheorie? auch in einer Rezension aus der DDR „eine<br />
ungerechtfertigte Negierung bedeutsamer philosophisch-weltanschaulicher<br />
Entscheidungsfragen" vorgeworfen wurde 71 und da die Erörterung<br />
solcher Entscheidungsfragen noch einmal ins Zentrum des<br />
Streits um die materialistische Dialektik führt, greife ich einige der<br />
Streitfragen auf, die damit zusammenhängen.<br />
71 So A. Thom im Referateblatt Philosophie der Zentralstelle für die<br />
philosophische Information und Dokumentation, Reihe D, VII (1974), Lfg. 1,<br />
Bl. 29.<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©