Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Streitbarer Materialismus? 627<br />
Wirkung im individuellen und gesellschaftlichen Erkenntnisprozeß<br />
konkret namhaft zu machen sind. Die sozial-historische Determinationsanalyse<br />
hat die der materiell-gegenständlichen Erkenntnisbedingungen<br />
verdrängt. Die Objektivität menschlicher Erkenntnis<br />
kann auf dieser schmalen Basis nicht mehr definiert werden. Definiert<br />
werden kann ihre Relativität, nicht aber ihre Relation als<br />
historische (und deshalb relative) Erkenntniswahrheit zur objektiven<br />
Wahrheit 15 .<br />
Wo die Wissenschaft der „Praxis" Praxis nicht mehr als Element<br />
des Materieprozesses begreift, wird die Praxis einer Wissenschaft<br />
(hier: der Erkenntnistheorie) gefährdet, die praktische, unter Angabe<br />
von Objektivitätskriterien rational verändernde Wissenschaft sein<br />
will und sein muß.<br />
VI. Schlußfolgerungen 1<br />
1. Die Erkenntnistheorie hat wissenschaîtsklassifikatorisch den<br />
gleichen Rang wie die politische Ökonomie. Wie die politische Ökonomie<br />
die Produktionsweisen der materiellen gesellschaftlichen Produktion<br />
erforscht, untersucht die Erkenntnistheorie die Produktionsweisen<br />
der ideellen gesellschaftlichen Produktion. Die Abhängigkeit der<br />
ideellen von der materiellen Produktion begründet eine Abhängigkeit<br />
der Erkenntnistheorie von der politischen Ökonomie; beide Wissenschaften<br />
gemeinsam rekonstruieren die Wechselwirkung von<br />
ideeller und materieller Produktion in der historischen Dialektik der<br />
Arbeit; die Erkenntnistheorie bildet zugleich eine Grundwissenschaft<br />
der historisch-materiellen Wissenschaften, weil sie die logische Konstitution<br />
z. B. auch der politischen Ökonomie als Wissenschaft erklärt.<br />
Eine Identifizierung von Erkenntnistheorie und politischer Ökonomie<br />
ist ein Rückfall in den vordialektischen Materialismus. Die Abstraktionen<br />
der Erkenntnis sind nicht allein bedingt durch die wirkliche<br />
politisch-ökonomische Abstraktheit, z. B. im Kapitalismus, sondern<br />
immer auch durch die historisch-logische Vermittlung sozial-historisch<br />
determinierten Wissens.<br />
2. Die marxistische Erkenntnistheorie arbeitet als Einzeldisziplin<br />
im System der materialistischen Dialektik. Außerhalb dieses Systems<br />
ist sie nichts; denn ihr Gegenstand ist ein Moment im Gesamtprozeß<br />
der Produktion des Lebens, das Moment ideelle Produktion/Reproduktion.<br />
Ihre relative Eigenständigkeit erhält sie, weil in der Dialektik<br />
der materiellen Arbeit relativ eigenständige Qualitäten des Materieprozesses<br />
erzeugt werden: die Formen des Bewußtseins, welche auf<br />
dem ontologischen Niveau gesellschaftlicher Produktion neue Formen<br />
des gesellschaftlichen Seins auch „schaffen" (Lenin). Solange die<br />
Geschichte der Produktionsweisen bestimmt ist, nicht etwa durch die<br />
abstrakte Formel „gesellschaftliche (gesamtgesellschaftliche) Arbeit",<br />
15 B. Okun, Gesellschaftlicher und individueller Erkenntnisprozeß. In:<br />
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 21 (1973), S. 1089—1096.<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©