Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Streitbarer Materialismus? 613<br />
Adressat stimmt heute noch. Nicht zufällig inthronisiert Sohn-Rethel<br />
Kant, nicht zufällig streicht auch Schmidt den „Zusammenhang der<br />
Marxschen Lehre mit Kants Transzendentalphilosophie" bewußt heraus.<br />
Kein Zufall der Kontext, in dem dies geschieht: A. Schmidt<br />
stimmt an den Refrain vom Leninschen „dogmatischen Abbild-Realismus",<br />
wie „er in Lenins (mehr parteigeschichtlich als philosophisch<br />
relevantem) Buch .Materialismus und Empiriokritizismus' kodifiziert<br />
wurde"; A. Schmidt weiß sich des Applauses <strong>kritische</strong>r Geister wie<br />
A. Leist sicher, wenn er — von „Materialität" der menschlichen Lebensverhältnisse<br />
redend — eben diese Materialität als „alles andere<br />
als ontologisch" dementiert 8 . A. Leists Berufung auf Apel, Habermas,<br />
Negt und Schmidt — Gegner bleiben weitgehend gesichtslos „die"<br />
orthodoxen Leninisten (S. 580), „die" Vertreter der Abbildtheorie<br />
(S. 583) — ist ideologisch interessiert und wenig aufsehenerregend.<br />
Der zaghafte Versuch, die Liaison „Marx-Kant" zu erinnern (S. 591),<br />
decouvriert sich selbst. Interessanter, weil diametral anders interessiert,<br />
ist Haugs heimliche Materialismus-Einbuße, ist seine spröde<br />
Distanzierung von der Widerspiegelungstheorie.<br />
IV. W. F. Haug und der Materialismus der Widerspiegelungstheorie<br />
Um es vorweg zu sagen, — der historische und aktuelle Verweis<br />
auf Revisionismen des Materialismus und der Widerspiegelungstheorie<br />
hatte nicht die Funktion, W. F. Haug in ihm unangemessene<br />
schlechte Gesellschaft zu rücken und die Kritik vorzubereiten. Er<br />
diente dem Hinweis, daß die Erkenntnistheorie in der II. und III.<br />
Internationale zu einem Hauptkriegsschauplatz gegen den Marxismus<br />
wurde; daß hier — und viel weniger im Bereich der Politik — bürgerliche<br />
intellektuelle <strong>Theorie</strong>lastigkeit — transportierte Trennung<br />
von Kopf und Hand — zur Belastung der Philosophie des wissenschaftlichen<br />
Sozialismus wurde. Vielleicht kann er Haug dazu auffordern,<br />
seine Kritik von scheinbar vergleichbarer deutlich abzuheben.<br />
Bei Leist liest sich das Verdikt gegen den Materialismus als eines<br />
gegen materialistische Ontologie, und nicht nur zwischen den Zeilen<br />
entpuppt sich bei Leist der Antimaterialismus als Anti-Leninismus<br />
(S. 600).<br />
1. Widerspiegelungstheorie<br />
Erinnert Haug „zunächst einmal an den Sinn dialektisch-materialistischer<br />
Erkenntnistheorie" (S. 559), so ist dies plausibel, denn hierzulande<br />
gedeiht sie nicht eben prächtig; und doch erweckt eine solche<br />
Erinnerimg den falschen Eindruck, der Sinn dieser <strong>Theorie</strong> sei allgemein<br />
umstritten. Im Sozialismus schreibt sie inzwischen nach Jahrzehnten<br />
einer komplexen und immer differenzierteren Ausarbeitimg<br />
ihre eigene Geschichte. Es ist nicht gut, Nullpunkt-Situationen zu<br />
fingieren, wo z. B. in der UdSSR und in der DDR, in der CSSR und<br />
8 A. Schmidt, a.a.O., S. 8, 11.<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©