Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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616 Hans Jörg Sœndkiihler<br />
und mit aller Vorsicht einräumen, daß nicht alle „Ansprüche dialektisch-materialistischer<br />
Erkenntnistheorie ... exemplarisch im Hauptwerk<br />
von Marx eingelöst" sind (S. 563). Engels konnte auch nach dem<br />
„Kapital" noch feststellen, daß das „Wie?" der „Umsetzimg und Übersetzung<br />
von Materiellem in Ideelles" nicht umfassend beantwortet sei;<br />
Lenin konnte noch nach Marx' „Kapital" das Problem aufwerfen,<br />
wie dieselbe Materie bewußtlos und doch widerspiegelungsfähig sei<br />
(vgl. LW 14, S. 43). Historisch-materialistische Teilantworten liegen<br />
gesichert vor; dialektisch-materialistische stehen noch heute zu gutem<br />
Teil aus.<br />
2. ^Materialismus und Widerspiegelungstheorie<br />
Eine der Grundlagen der Haugschen Position dürfte in seiner<br />
Distanzierung von der Natur-Dialektik liegen. Erstens schränkt er<br />
die materialistische Natur-Kategorie ein auf die Verhältnisbestimmimg<br />
„Natur-Arbeit-Erkenntnis". Aber ist in Marx' „Kapital"<br />
(speziell Marx/Engels Werke, Bd. 23, S. 192 f.) wirklich schon gesagt,<br />
was eine materialistische <strong>Theorie</strong> bezüglich der Natur zu sagen hat?<br />
Wohl kaum! Anti-Ontologie beruft sich zwar ständig auf die Marxsche<br />
Analyse des Natur-Arbeit-Verhältnisses, unterschlägt aber (wie<br />
z. B. A. Schmidt) penetrant die Engelssche „Dialektik der Natur",<br />
den „Anti-Dühring" und Lenins Aussagen über die Natur als materiellen<br />
bewußtseinsumgreifenden Prozeß. Was bedeutet es, wenn Erkenntnis<br />
nicht als „Naturgabe", d. h. als Produkt der Einheit „Natur-<br />
Gesellschaft" (mit Prävalenz der Natur) definiert und der „Stoffwechsel<br />
des Menschen mit der Natur" als „durchaus einseitig" (S. 568)<br />
beschrieben wird? Man muß wohl zweitens einen Natur-Begriff voraussetzen,<br />
zu dessen Inhalt die moderne Technologie per definitionem<br />
nicht gehört; man muß „den Menschen" anthropologisch von jener<br />
Natur isolieren, in und an der die Menschen natur- und gattungsgeschichtlich<br />
(und diese beiden Geschichten bilden unsere Geschichte<br />
nur gemeinsam) ihr „Wesen" erarbeiten; man muß die Determinationsfaktoren<br />
der subjektiven Erkenntnis als Widerspiegelung auch<br />
der objektiven Dialektik der Natur um die gesellschafts- und bewußtseinsvorgängigen<br />
Notwendigkeiten verkürzen, um zu einer Bestimmung<br />
der Erkenntnis allein aus menschlicher Naturnotwendigkeit<br />
zu gelangen; kurz: man muß die materielle Einheit der Welt<br />
gegen die Gesetze des Materialismus aufsprengen und drittens — um<br />
den Determinismus noch aufrecht zu erhalten — die Determinaten<br />
der Erkenntnis reduzieren auf die Kausalität zwischen gesellschaftlicher<br />
Arbeit und ideeller Reproduktion; hierbei gewinnen dann die<br />
Produktionsverhältnisse kurzschlüssig die Macht einer zureichenden<br />
Erkenntnisbegründung. Aber selbst in dem von Haug zitierten Kontext<br />
der Marxçchen allgemeinen Bestimmung von Arbeit erscheint<br />
der „Kopf" selbst als „Naturmacht", nicht aber nur als Macht gegen<br />
Natur. Lenin zählte die Erkenntnis bewußt zu den „objektiven Formen"<br />
der Dialektik, des objektiven Prozesses (LW 38, S. 178). Jeder<br />
heutige Antimaterialismus übersieht den Charakter der materialisti-<br />
D AS ARGUMENT 92/1975 ©