Das Argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Materialistische Erkenntnistheorie — was soll das? 631<br />
Da Haug natürlich klar sieht, daß diese — bewußt oder unbewußt<br />
vorausgesetzten — anthropologischen Konstanten naturalisierte bürgerliche<br />
Verhältnisse darstellen, andererseits aber die allgemeine erkenntnistheoretische<br />
Grundfrage übernimmt, bleibt seinem Materialismus<br />
nichts anderes, als menschliches Sein auf „Physiologie" zu reduzieren.<br />
Daher die Verkürzung des Praxisbegriffs: „Die Notwendigkeit<br />
des Denkens gründet in der des Brotes" (S. 569). Eine Feststellung,<br />
die als materialistische die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter<br />
denen dieser „Broterwerb" stattfindet, ignoriert; soll jedoch nicht<br />
mehr gesagt werden, als daß Denkprozesse, um überhaupt stattfinden<br />
zu können, die Existenz eines menschlichen Wesens voraussetzen,<br />
handelt es sich wohl kaum um eine materialistische Aussage. Auch<br />
Haugs Berufung auf den gesellschaftlichen Lebensprozeß (S. 561)<br />
ändert daran nichts; denn im Nachsatz wird dieser als „Lebenspraxis<br />
der Menschen", von der jeder Denker ausgehe, „solange er nicht verhungern,<br />
verdursten oder sonst umkommen will" definiert. Materielle<br />
gesellschaftliche Verhältnisse erstarren zum „Leben" an und<br />
für sich.<br />
In Haugs Materialismusbegriff erscheint dieses unhistorische<br />
Praxisvefständnis aufs neue: Idealismus und Materialismus unterscheiden<br />
sich schlicht durch ihre unterschiedliche Antwort auf die erkenntnistheoretische<br />
Grundfrage. Daher gelangt Haug bei Betrachtung<br />
vorkapitalistischer Gesellschaftsformen und deren Denkweisen<br />
zu falschen Einschätzungen. Denn nach platter Entgegensetzung von<br />
Materialismus und Idealismus (als ob es keinen bürgerlichen Materialismus<br />
gäbe! Oder soll dieser schlankweg unter die Rubrik „getarnter<br />
Idealimus" eingereiht werden?) fällt es nicht schwer, diesen<br />
Gegensatz dem von Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse analog zu<br />
setzen, ja überhaupt dem von Ausgebeuteten und Ausbeutern (womit<br />
die Bezeichnung einer Philosophie als idealistisch den letzten<br />
Rest von Aussagekraft eingebüßt hätte): „Im Idealismus ist mit dem<br />
Vorrang der Idee die Herrschaft der besitzenden Klassen indirekt legitimiert,<br />
im Materialismus der Machtanspruch der materiell Produzierenden"<br />
(S. 560). „... im Gegensatz von Idealismus und Materialismus<br />
spiegelt (?) sich schon früh der Gegensatz und Kampf sozialer<br />
Klassen" (S. 561). Daß dem dann auch noch der Gegensatz von Handund<br />
Kopfarbeit parallelisiert wird (S. 560 f.), nimmt kaum noch wunder.<br />
Der schlichten Konstruktion „Idealismus versus Materialismus" ist<br />
es weiterhin geschuldet, daß Haug dem Idealismus nur mehr vorwerfen<br />
kann, auf der falschen Seite zu stehen. Kritik bürgerlicher<br />
<strong>Theorie</strong> wird ersetzt durch Besserwisserei, durch den Vorwurf, auf<br />
die gemeinsame Grundfrage eine falsche — weil nicht materialistische<br />
— Antwort zu geben. Demzufolge werden die wirklichen, weil<br />
ihrer eigenen Logik entspringenden Probleme bürgerlicher Erkenntnistheorie<br />
(S. 562) als „Scheinprobleme" denunziert, wird dem idealistischen<br />
Ansatz zum Vorwurf gemacht, er sei „nutzlos", lenke ab vom<br />
Hauptproblem, führe nicht „weiter" (S. 565).<br />
DAS ARGUMENT 92/1975 ©