Wiedergänger in der skandinavischen Literatur
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Nach diesem Exkurs wird verständlich, wie wichtig Bürgers „Lenore“ war und aus diesem<br />
Grund wurde diese Ballade bald auch übersetzt und so <strong>in</strong> ganz Europa populär. Die<br />
englischsprachigen Übersetzungen entstanden 1796. E<strong>in</strong>e dieser Übersetzung stammt von<br />
John Thomas Stanley mit dem Titel „Leonora“. In diesem Zusammenhang ist es <strong>in</strong>teressant<br />
dass Stanley <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Auflage e<strong>in</strong> eigenständiges Ende für die Ballade verfasst hatte und<br />
damit ihre Bedeutung und Moral verän<strong>der</strong>te. „Was Bürger als wirklich vorgegangen erzählt,<br />
löst sich hier am Ende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en bloßen Traum auf, von welchem Leonore zum Wie<strong>der</strong>sehen<br />
ihres Wilhelm’s erwacht.“ 212 Er hat 8 Strophen 213 h<strong>in</strong>zugefügt, davon lautet die Letzte:<br />
Wake, Leonora! – wake to Love!<br />
For thee his choicest wreath he wove<br />
Death va<strong>in</strong>ly aim’d his Dart.<br />
The past was all a dream; she woke –<br />
He lives; - ‘twas William’s Self who spoke,<br />
And clasp’d her to his heart. 214<br />
Europäische Dichter konnten sich dem E<strong>in</strong>fluss von Bürgers Ballade nicht entziehen. In<br />
England wurde sie von Keats, Shelley, Southey, Coleridge o<strong>der</strong> aber Wordsworth, um nur<br />
e<strong>in</strong>ige zu nennen, entwe<strong>der</strong> nachgeahmt o<strong>der</strong> sie wurden durch „Lenore“ zu eigenen Werken<br />
<strong>in</strong>spiriert. Beson<strong>der</strong>s Coleridge und Wordsworth waren von diesem Meisterwerk tief<br />
bee<strong>in</strong>druckt. Sie haben dem theoretischen Werk zum Aufbau e<strong>in</strong>er Ballade, welches sich als<br />
Vorwort <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Ausgabe jener Sammlung wie<strong>der</strong> f<strong>in</strong>den lässt, die auch „Lenore“<br />
enthält, nachgeeifert. Coleridges größte Werke, wie „The Rime of the Ancient Mar<strong>in</strong>er“ und<br />
„Christabel“, e<strong>in</strong>e Schauerballade über e<strong>in</strong>en weiblichen Vampir, weisen auf diesen enormen<br />
E<strong>in</strong>fluss Bürgers h<strong>in</strong>.<br />
Bürgers Ballade wurde des Öfteren auch vertont. Zum Teil wurde „Lenore“ so als<br />
Strophenlied behandelt, teils durchkomponiert o<strong>der</strong> aber zum Melodrama ausgearbeitet und<br />
gehört zu den Volkslie<strong>der</strong>n über die „Sage vom toten Bräutigam“ 215 . E<strong>in</strong>ige dieser<br />
Volksliedfassungen waren so populär, dass sie Bürger bekannter und beliebter als Goethe<br />
machten. Dieses Phänomen zog sich durch nahezu alle Gesellschaftsschichen. E<strong>in</strong>e<br />
musikalische Version davon soll Schubert zu se<strong>in</strong>em „Erlkönig“ <strong>in</strong>spiriert haben.<br />
212 Lenore Ballade von Bürger. In drei englischen Übersetzungen, S. 7<br />
213 Ebenda, S. 31-33<br />
214 Ebenda, S. 33<br />
215 Siehe: Erk-Bohme: Deutscher Lie<strong>der</strong>hort I Nr. 197<br />
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