1 Regionalentwicklung der Oberlausitz Chancen und ... - IHI Zittau
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124 Albert Löhr<br />
von Thiele in diesem Band), aber es muss klar werden, dass dieses Thema mit dem<br />
Stichwort <strong>der</strong> „Vergreisung“ nicht differenzierend genug beschrieben ist. Zumindest drei<br />
parallele Entwicklungen laufen zusammen <strong>und</strong> sorgen dabei kumulierend für ungute Effekte:<br />
(1) Geburtenzahl: Die nachwachsenden Generationen bestehen aus immer weniger<br />
Kin<strong>der</strong>n; (2) Lebenserwartung: Die Generation <strong>der</strong> Alten – herkömmlicherweise defi -<br />
niert als über 65-Jährige – wird in <strong>der</strong> Region wegen relativer Immobilität <strong>und</strong> steigen<strong>der</strong><br />
Lebenserwartung immer größer; <strong>und</strong>, häufi g übersehen in seiner Dramatik: (3) Abwan<strong>der</strong>ung:<br />
Die Generation <strong>der</strong> regional präsenten Leistungsträger im mittleren Lebensalter<br />
wird durch Pendlerexistenzen <strong>und</strong> Abwan<strong>der</strong>ungsbewegungen immer schlanker.<br />
Wo aber kaum noch Familien gegründet werden, weil potentielle Eltern abwan<strong>der</strong>n,<br />
verdünnt sich die Bevölkerungspyramide exponentiell. Die ideale Alterspyramide in Glockenform<br />
entwickelt sich so über den Übergangstatus einer Zwiebelform hin zu einer<br />
Pilzform. Allein beim Gedanken an die Folgen für Wohnraum <strong>und</strong> Nahversorgung darf<br />
man dann nicht stehen bleiben, denn was diese Erosion von Nachwuchs für Wirtschaft,<br />
Kultur, Bildung, schlicht das „Humankapital“ einer Region bedeutet, ist als nur schwer<br />
kompensierbarer Verlust von Zukunftspotentialen zu verstehen. Die aktuellen Schulschließungen<br />
sind da nur Vorboten einer möglicherweise grausamen Entleerung <strong>der</strong><br />
Region, falls keine Maßnahmen <strong>der</strong> Gegensteuerung einsetzen.<br />
– Brain Drain:<br />
Viel schlimmer noch werden diese Erosionen, wenn man sich vor Augen hält, dass es in<br />
den Verlustprozessen nicht einfach um Quantität geht, son<strong>der</strong>n ganz massiv um Qualität.<br />
Abwan<strong>der</strong>n können <strong>und</strong> wollen nämlich nur diejenigen, die an<strong>der</strong>orts eine (bessere) Existenzgr<strong>und</strong>lage<br />
fi nden. Die erschreckenden Folgen des Prozesses, dass zwangsläufi g eher die<br />
„<strong>Chancen</strong>reichen“ abwan<strong>der</strong>n als die „<strong>Chancen</strong>losen“, kann man bereits im Schulsystem<br />
erkennen, wo bei <strong>der</strong> Diskussion um Schulenschließungen häufi g übersehen wird, dass<br />
primär <strong>der</strong> Nachwuchs für die höheren Schulabschlüsse ausbleibt, <strong>der</strong> Zustrom zu den<br />
För<strong>der</strong>schulen dagegen sogar steigt. Bildungspolitiker diagnostizieren daher schon eine<br />
dramatische Verschiebung <strong>der</strong> Bildungsschichten in <strong>der</strong> Region, durch die <strong>der</strong> gebildete<br />
Nachwuchs immer seltener <strong>und</strong> bildungsferne Gruppen immer dominanter werden. Nicht<br />
nur die negativen Folgen für die Ausbildungs- <strong>und</strong> Studierfähigkeit <strong>der</strong> jungen Generationen<br />
sind schon sichtbar, son<strong>der</strong>n auch die bedenkliche Anfälligkeit <strong>der</strong> „Generation<br />
Reform“ – o<strong>der</strong> drastischer: <strong>der</strong> „Generation Dummheit“ – für populistische Medienspektakel<br />
(das berüchtigte „Unterschichtenfernsehen“ von Paul Nolte) 10 <strong>und</strong> die Parolen politischer<br />
Rattenfänger vom vorrangig rechten Szenerand. In schleichenden Prozessen entzieht so<br />
ein chronisch mangelhafter Bildungsstand <strong>der</strong> noch vielfältig ausdifferenzierten Bildungslandschaft<br />
den Nachschub an jungen Menschen, was nicht nur zu punktuellen Ausfällen<br />
in <strong>der</strong> Bildungsstruktur führt (Schließung von Gymnasien, Mittelschulen, Bibliotheken,<br />
Kultureinrichtungen), son<strong>der</strong>n die gesamte Bildungskette zu zerreißen droht: Die wenigen<br />
bildungshungrigen Restbürger werden sich vielleicht bald nur noch in den großen Zentren<br />
o<strong>der</strong> per Internet mit Wissensstoff versorgen können.<br />
10 Der Ausdruck „Unterschichtenfernsehen“ stammt wohl ursprünglich aus dem Szenemagazin Titanic 5/1995, S. 10,<br />
wurde von PAUL NOLTE, Generation Reform, München 2004, in die Wissenschaftsszene eingebracht <strong>und</strong> von Harald Schmidt<br />
in seiner Late Night Show popularisiert.