116 117OSTEOTOMIE UND REORIENTIERUNGB. v. Langenbeck war es auch, der die subkutane Osteotomie einführte unddadurch in der vorantiseptischen Zeit die Probleme der Wundheilungsstörunglöste [10]. Dieses Verfahren spielte in den in der Mitte des 19. Jahrhundertsstattfindenden Kriegen und im Krimkrieg (1853 – 1856) einebedeutende Rolle, da es auch unter Feldverhältnissen anwendbar war undso namhafte Anwender wie Georg Friedrich Louis Stromeyer und JohannFriedrich v. Esmarch (1822 – 1908) fand. Einen wichtigen Fortschritt erzielteB. v. Langenbeck jedoch durch die subperiostale Osteotomie, die er beiHeine gesehen hatte [24].Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren derart weitgehende Erfahrungengesammelt worden, dass Theodor Billroth (1829 – 1894) in seiner „Allgemeinenchirurgischen Pathologie und Therapie in fünfzig Vorlesungen“, die er<strong>als</strong> „Handbuch für Studierende und Aerzte“ bezeichnete, resümieren konnte:„Im Ganzen sind die unblutigen Methoden, wenn dieselben nicht mit zugroßer Quetschung verbunden sind, den blutigen vorzuziehen; doch sindletztere weniger gefährlich, <strong>als</strong> wenn man mit stark quetschenden Apparatenschief geheilte Fracturen zermalmt.“ [3]. Ein bevorzugtes Objekt derOsteotomie ist seit Billroth das Genu valgum und bis heute auch das Genuvarum. Anstelle der Keilosteotomie empfahl er die lineare Osteotomie. DieBelastung durch wechselnd häufige Peronäusparesen führte zur suprakondylärenOsteotomie (Sir William MacEwen. 1848 – 1924, Glasgow). Im Laufeder Jahrzehnte sind für diesen Eingriff unzählige Variationen und Technikenangegeben worden. Unter diesen vereint die bogenförmige Osteotomie desTibiakopfes die günstigsten Voraussetzungen, nämlich exakte Einstellbarkeitin 3 Ebenen, breitflächigen Kontakt und sofortige Bewegungsmöglichkeit.PathophysiologieHaut und Knochen sind sehr widerstandsfähige Gewebe und haben beideeine enorme Kapazität zur Heilung und Regeneration, die die Grundlagevieler moderner rekonstruktiver Operationsverfahren darstellt. Während derGelenkknorpel sehr hohen mechanischen Belastungen ausgesetzt ist, istseine Fähigkeit zur Reparation und Regeneration stark eingeschränkt. Knor-pel gehört zu den Geweben, die auf Fehlstellungen besonders reagieren.Dieses relativ empfindliche Gewebe ist verantwortlich für die Lastübertragung,die ein Vielfaches unseres Körpergewichtes übersteigt bei geschätztenBewegungszyklen von über 1 Milliarde während einer normalen Lebenszeit.Es ist deshalb nicht überraschend, dass jede Veränderung der anatomischenund biomechanischen Verhältnisse zu einer Beschleunigungdieses graduellen alterungsspezifischen Verschleißes führt. Da die untereExtremität unser Körpergewicht während unseres ganzen Lebens trägt, ist dasaxiale Alignment prognostisch wichtig im Hinblick auf die Belastungen,denen der Gelenkknorpel während des Gehens ausgesetzt ist. Alignmentsteht deshalb in vielen klinischen Situationen im Vordergrund, sei es bei derFrakturreposition, beim Kniegelenkersatz oder der Deformitätenkorrektur.Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Ursache degenerativer Gelenkveränderungenmechanisch und nicht entzündlich bedingt ist. Der Begriffder degenerativen Arthritis im angloamerikanischen Schrifttum ist nichtkorrekt, weil die Entzündung das sekundäre Resultat darstellt und nicht dieprinzipielle Ursache. Arthrose ist deshalb der Begriff, der die degenerativenpathologischen Anomalitäten des Gelenkes beschreibt. Die einseitige Kniegelenksarthroseist häufig mit einer Fehlstellung verknüpft.Die Fehlstellung verändert die Stressbelastung der Gelenke der unterenExtremität, insbesondere des Kniegelenkes. <strong>Das</strong> Konzept einer Tragachseist nicht neu und wird <strong>als</strong> mechanische Achse bezeichnet. Die Tragachsebeinhaltet die Linie, welche vom Zentrum des Hüftkopfes zum Zentrumdes Sprunggelenkes verläuft und repräsentiert den Belastungsweg. Wenndie Belastungsachse medial oder lateral des Kniegelenkszentrumsverläuft, ändert dies den Hebelarm, der die Last vermehrt, die sichentweder medial oder lateral im Bereich des Kniegelenkes auswirkt. Pauwels(1885 – 1980) griff <strong>als</strong> erster das Konzept der mechanischen Achse auf(1935) und unterstrich die Bedeutung des Realignments, um die normaleKraftübertragung im Bereich des Kniegelenkes wieder herzustellen. Er war einerder ersten, der die Bedeutung der Biomechanik und deren Verhältnis zurchirurgischen Planung für die Korrektur einer Fehlstellung durch Osteotomie
118 119OSTEOTOMIE UND REORIENTIERUNGunterstrich. Maquet (1984) führte diese Ideen fort und konnte die Veränderungin der Stressbelastung bei simulierten Gelenken unter Benutzungdes polarisierten Lichts und fotoelastischer Modelle zeigen. <strong>Das</strong> Verhältnisvon Fehlstellung und folgender degenerativer Arthropathie scheint eindeutig.Wegen des langsamen Fortschritts der Erkrankung, der schlechten Toleranzdurch die Patienten und Behandlungsalternativen ist es schwierig, dienatürliche Entwicklung dieses Prozesses zu dokumentieren. Es besteht eineklare Korrelation zwischen persistierender Fehlstellung und einer späterendegenerativen Arthrose.Analyse der Fehlstellung an der unteren ExtremitätPosttraumatische Fehlstellungen sind überwiegend mehrdimensionaleFehlstellungen. Die Länge, Achse und Torsion des deformierten Beinsegmentsmuss deshalb vollständig analysiert werden. Berücksichtigt werdenmuss dabei immer, dass auf dem Röntgenbild ein dreidimensionaler Knochenauf einer Ebene mit Projektionsfehlern abgebildet wird. Die tatsächlicheDeformität ist meistens erheblich größer <strong>als</strong> in den Einzelprojektionen.Der genauen Kenntnis der Beingeometrie kommt deshalb eine entscheidendeBedeutung bei der Planung einer Korrekturoperation zu.Bei der klinischen Untersuchung kann die absolute Beinlängendifferenzmit der Brettchen- oder schneller der PALM-Methode bestimmt werden(Genauigkeit ±1,5cm). Bei letzterer handelt es sich um eine modifizierteBeckenwaage, die den Abstand und die Neigung der Beckenkämme misst.Mit Hilfe einer Tabelle kann die Beinlängendifferenz direkt abgelesen werden.Die Bestimmung der Beinlängendifferenz mit dem Maßband ist noch ungenauer.Wesentlich exakter ist die Bestimmung der relativen Beinlänge mitradiologischen Methoden. Bei der Orthoröntgenographie und der CT betragendie Richtigkeit ±3mm und die Wiederholbarkeit ±2mm. Somit sind auchhier Abweichungen von bis zu 5mm bei der Einzelmessung möglich. DieGenauigkeit der navigierten Ultraschallmessung (2.5D-Sonographie) liegt inder gleichen Größenordnung. Auch bei standardisierter Durchführung derTeleröntgenographie betragen die Richtigkeit und Wiederholbarkeit bei derBestimmung der Beinachse ±3°. Die Bestimmung der anatomischen Beinachsean langen Kniegelenksaufnahmen sollte wegen einer noch größerenUngenauigkeit nicht durchgeführt werden. Torsionswinkeldifferenzenkönnen klinisch nur im Bereich der Unterschenkel mit einer ausreichendenGenauigkeit (95% Fehler