160 161VON DER POLLIZISATION ZUR REPLANTATIONJ. WindolfA. EisenschenkNoch bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts war die Amputation die führendeMethode der Wahl zur Behandlung stark zerstörter Extremitäten. Diechirurgisch tätigen Kollegen waren sich bewusst, dass hochgradig minderperfundiertes,kontaminiertes und/oder stark zerquetschtes Gewebeohne effektive Therapie zu Infektionen mit Extremitäten- oder sogar Lebensverlustführen kann. Zur Verhinderung dieser inakzeptablen Folgen warenentweder frühzeitige radikale Debridements oder ggf. die Amputation dieTherapie der Wahl.Professor Dr. med. Joachim WindolfDirektor der Klinik für Unfall- und HandchirurgieUniversitätsklinikum DüsseldorfMoorenstr. 540225 DüsseldorfPD Dr. med. Andreas EisenschenkChefarzt der Abteilung für Hand-, Replantations- und MikrochirurgieUnfallkrankenhaus BerlinWarener Str. 712683 BerlinInnerhalb der <strong>Unfallchirurgie</strong> konnte beobachtet werden, dass die Handverletzungenbereits frühzeitig eine wachsende Bedeutung entwickelten,insbesondere in Verbindung mit dem berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren.Neben der sozioökonomischen Bedeutung der Alltagshand ist diefunktionsfähige und sensible Hand im Beruf existenziell für den Patienten.Die Antibiotikatherapie, die Verbesserung der Knochenbruchbehandlungund die Entwicklung mikrochirurgischer Techniken an der Hand sindhistorische Meilensteine. Heute können schwer verletzte Hände mit dem Zieleiner sensiblen Funktionswiederherstellung zum Beispiel stabilisiert, revaskularisiertund replantiert werden, die in der Vergangenheit noch in einerAmputation endeten. Diese außerordentliche Entwicklung ruht auf denSchultern vieler Chirurgen. Sie kommen aus den Fachbereichen <strong>Unfallchirurgie</strong>,plastische Chirurgie und orthopädische Chirurgie.Die herausragende Stellung der Funktion bei Verletzungen an der Handwar den behandelnden Ärzten frühzeitig bewusst. Bei Amputation und fehlenderReplantationsmöglichkeit mussten Alternativen zur Wiederherstellungder Funktion etabliert werden. Aus diesem Ziel heraus führte SterlingBunnell 1929 bei einer Kreissägenverletzung an der Hand mit Amputationdes Daumens im Daumensattelgelenk und gleichzeitiger Teilamputation desZeigefingers im Grundglied eine Zeigefingerpollizisation durch.Ein Meilenstein in der Handchirurgie innerhalb der letzten 60 Jahre warzweifelsfrei die Entwicklung der Mikrochirurgie. Bereits 1912 erhielt
162 163VON DER POLLIZISATION ZUR REPLANTATIONAbb. 1 / Monographie von Alfred Pannike über die Grundlagen und klinischen Anwendungen von verschiedenen Osteosynthesenam Skelett der Hand: „Osteosynthese in der Handchirurgie“, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, 1972.Alexis Carrel den Medizinnobelpreis für Mikrochirurgische Techniken zurGefäßnaht. Wahrscheinlich war Theodor Sämisch, Bonn, der erste Chirurg,der ein binokulares Vergrößerungssystem im operativen Alltag anwandte.Der Ansatz, durchtrennte Blutgefäße wiederherzustellen, wurde bereits inden 50er-Jahren von Harold Earl Kleinert in Louisville, USA, verfolgt. DiePublikation von Jacobson und Suarez (1960) über die Mikrochirurgie derkleinen Blutgefäße stellt die Grundlage der Mikrogefäßchirurgie dar. Erreichtwurden diese Ergebnisse mit dem Opmi 1 Mikroskop, welches 1953 miteiner koaxialen Lichtquelle kommerziell verfügbar war. 1963 gelang HaroldEarl Kleinert die erste erfolgreiche Revaskularisation eines Fingers. SeineErkenntnisse über mikrochirurgische Techniken trugen später auch zurEtablierung vieler frei übertragener Lappen und anderer Gewebeanteilebei. Die erste erfolgreiche Mikroreplantation wurde 1968 von Komatsu undTamai veröffentlicht. 1969 erfolgte durch Cobbett die erste mikrochirurgischeZehentransplantation. 1973 berichteten O`Brien sowie Daniel undTaylor über freie vaskularisierte Lappenplastiken und 1974 Taylor über freievaskularisierte Knochentransplantationen.Bei der Erhaltung und Wiederherstellung bei Verletzungen der Hand solltejedoch die volle Aufmerksamkeit nicht allein der Haut, den Nerven, denGefäßen und den Sehnen gelten. <strong>Das</strong> funktionelle Ergebnis ist insbesondereauch von der Behandlung der biomechanischen Leit- und StützfunktionAbb. 2 / Arbeitsunfall mit einer Stanze bei einem 38jährigen Patienten. Amputationsverletzung auf Höhe des GrundgliedsRingfi nger rechts (A) mit Amputat (B). Sehr gutes kosmetisches und funktionelles Ergebnis nach 6 Monaten (C, D).des Skeletts, des Knochens, abhängig. Die suffiziente Therapie der knöchernenStrukturen ermöglicht das fein abgestimmte Funktionsspiel der Hand.Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts vertraten noch zahlreiche Handchirurgendie Ansicht, Knochenbrüche an der Hand und den Fingern würdenlediglich einer guten Reposition und Schonung bedürfen. Einen großenSchritt stellten die Erkenntnisse L. Böhlers in der konservativen Knochenbruchbehandlungdar. Die Idee einer umfassenden Ruhigstellung wurdevon Sterling Bunnell aufgegriffen und im Sinne einer mehr funktionellenKnochenbruchbehandlung weiterentwickelt. Es wurde zunehmend angestrebt,die geschädigten Funktionsgebilde in ihre funktionell günstigsteStellung zu bringen und gleichzeitig die Wiederherstellung des bestmöglichenBewegungsausmaßes der Gelenke zu erzielen.Bei den Handverletzungen konnte beobachtet werden, dass die ungestörteHeilung eines Knochenbruchs auch an der Hand ohne Ruhigstellung füreinen angemessenen Zeitraum nicht möglich ist. Die Erfahrung konntejedoch zeigen, dass das Ausmaß von posttraumatischen oder postoperativenSchwellungszuständen, Gelenksteifen und Gewebeschrumpfungen durchaktive Bewegung vermindert oder verhindert werden kann. Im Wesentlichenwaren es zwei Gründe, die den Anstoß gaben von dem bis dahinunumgänglichen Kompromiss zwischen Ruhigstellung und funktionellerBehandlung freizukommen. Zum einen erwies sich die äußere Ruhigstel-