Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
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106<br />
Postmodernismus als Argumentationstechnik - Marek Graszewicz / Dominik Lewiński<br />
eher kurzes Leben in der Wissenschaft. Solche<br />
Kommunikationen haben natürlich ihre Geschichte, ein<br />
gewisses symbolisches Potential, aber sie haben das<br />
System nicht in besondere Turbulenzen gesetzt. Immer<br />
wenn wir mit moralischen Konflikten, Pasquillen und<br />
ähnlichen innersystemischen Ereignissen zu tun hatten, gab<br />
es daraus keine Folgen. Hat der Spott und Hohn von<br />
Carnap, Heidegger und den Heideggerianern und in der De-<br />
Man’schen Fortführung dieses Falles Schaden zugefügt?<br />
Hat Poppers ätzende Kritik den Vertretern der Frankfurter<br />
Schule geschadet? Welche Folgen und Konsequenzen<br />
hatte die bekannte Publikation von Stanislaw Andreski über<br />
Magie in den Sozialwissenschaften (obwohl er in dieser<br />
Publikation Parsons selbst mißhandelt hatte)? Welche<br />
Bedeutung hatten die Pasquille von J.M. Bocheński, obwohl<br />
er in ihnen fast die ganze zeitgenössische<br />
Geisteswissenschaft inkriminierte (andererseits: der Genetik<br />
hat der Fall Lysenko nicht geschadet, obwohl hier die ganze<br />
Schuld von der Wissenschaft auf die Politik verlegt wurde)?<br />
Solche Konflikte werden sehr leicht durch das System<br />
absorbiert, weil sie am Ende für die Realisierung von<br />
symbolischen Spielen gehalten werden, und auch für eine<br />
zulässige Erhöhung eines symbolischen Kapitals durch<br />
wissenschaftliche Diskurse, (denn sie sind ein Ergebnis des<br />
Kampfes um die Stellung auf dem Gebiet der Wissenschaft).<br />
Die ersteren mindern die übrigen, um sich über sie zu<br />
erheben, dies übrigen bleiben den ersteren nichts schuldig.<br />
Die Verteilung der Kräfte ist klar, die Interessen von<br />
irgendwelchen Diskursen können auch wirklich bedroht<br />
werden, aber das ist kein Problem, denn es geschieht mit<br />
einem Gewinn für die anderen Diskurse, also bleiben die<br />
Spielregeln im Feld der gegebenen Disziplin unverändert.<br />
Vom Systemstandpunkt her geschieht auch nichts<br />
besonderes. Für das System ist es nämlich gleichgültig, ob<br />
z.b. auf dem Feld der Literaturwissenschaft die<br />
Vorherrschaft dem Strukturalismus oder der Dekonstruktion<br />
gehören wird, ob auf dem Feld der Philosophie die<br />
analytische Option oder die Neopragmatismus-Befürworter<br />
gewinnen werden, solange die Grundregeln der System-<br />
Reproduktion unberührt bleiben. „Wir werden auch daran<br />
nicht erinnern, dass auch die Symbolgewinne in den<br />
beschriebenen Situationen sehr gering sind, man wird doch<br />
die Position der Hermeneutik nicht erschüttern, indem man<br />
meist raffinierte Pamphlete gegen sie publiziert (z.B.<br />
Markiewicz vs. Przybylski „Pamflet na ksi¹¿kê<br />
hermeneuty“)“. Auch die BefürworterInnen von Derrida<br />
werden nicht aus den Seminarien fliehen, nur wegen der<br />
wenig schmeichelhaften Meinung Woleñskis über ihn.<br />
Mit den Angriffen, die von außerhalb des Systems<br />
kommen, kommt die Wissenschaft auch dank der operativen<br />
Geschlossenheit zurecht. Am besten derart, dass sie solche<br />
Angriffe ignoriert. Das System entscheidet nämlich selbst,<br />
welche Impulse aus der Umwelt es als relevant und welche<br />
es als blosses „Rauschen“ betrachtet. Es droht uns kein Fall<br />
Galileo mehr. Das Wissenschaftssystem reagiert nicht auf<br />
Religionssysteme. Die Probleme der Folgen z.B. der<br />
Genetikforschung oder des amerikanischen Streits zwischen<br />
„Evolutionisten“ und „Kreationisten“ sind keine Probleme für<br />
die Wissenschaftskommunikation. Sie sind eher eine<br />
Methode, mit deren Hilfe die Religionsdiskurse versuchen,<br />
sich die nötige Medialisierung zu gewährleisten und für sich<br />
soziale Wichtigkeit zu gewinnen. Im Zusammenhang damit<br />
unterscheidet sich der Fall „Evolutionismus gegen<br />
Kreationismus“ nicht vom Fall Harry Potter oder Leonardo<br />
Kode. Auch die Interaktionen mit dem politischen System,<br />
außer wenigen Ausnahmen, führen die Wissenschaft nicht<br />
in die Klemme (wir möchten hier an die Geschichte des<br />
literaturwissenschaftlichen Strukturalismus in der<br />
kommunistischen Volksrepublik Polen erinnern). Die Angriffe<br />
von Seiten des Mediensystems werden in der Regel<br />
ignoriert. Wir finden z.B. kaum Reaktionen der polnischen<br />
postmoderistischen Geisteswissenschaft auf konservative<br />
Kritiken (z.B. die Publizistik von Legutko). Es reicht nur, auf<br />
die ideologische (rechts- und linksgerichtete) Option des<br />
Opponenten hinzuweisen um die Vorwürfe nicht relevant zu<br />
machen.<br />
Der Fall Sokall hat einen ganz anderen Charakter.<br />
Wir sollen hier nicht entscheiden, ob der Postmodernismus<br />
in die Klemme geraten ist oder ob er mit dem Problem<br />
zurechtkommen wird, indem er die Kritik internalisiert,<br />
obwohl wir davon überzeugt sind, dass die zweite<br />
Alternative sich verwirklichen wird. Der Fall Sokal ist ein<br />
Konflikt im Feld zwischen zwei Subsystemen des<br />
Wissenschaftssystems. Genauer gesagt, es ist ein Konflikt<br />
zwischen den empirischen Wissenschaften und der<br />
postmodernen Geisteswissenschaft. Wir müssen<br />
berücksichtigen, dass die Autorität des Wissenschaftlers<br />
und die Autorität der Wissenschaft sich in etwa gleich auf<br />
die Vertreter der empirischen Wissenschaften als auch auf<br />
die Vertreter der Sozialwissenschaften (und der Philosophie<br />
und sicher auch der Postmodernisten) erstreckt . Die Regeln<br />
des „Wissenschaftsspieles“ führen dazu, dass es unmöglich<br />
ist, einen Teilnehmer des Wissenschaftsfeldes von außen<br />
ernsthaft anzugreifen (delegitimieren). Und Innen: die<br />
Philosophie (als eine Argumentationstechnik verstanden) ist<br />
auch nicht imstande, den Postmodernismus zu<br />
delegitimieren; auch die Sozialwissenschaften sind nicht<br />
imstande, den Postmodernismus in ihrem Feld zu<br />
delegitimieren. Und zwar deshalb, weil die Postmodernisten<br />
die Regeln des Feldes, die ihren eigenen Voraussetzungen<br />
gemäß sind, selbst bestimmen (diese Voraussetzungen<br />
haben wir schon kurz besprochen). Und es gelingt ihnen: es<br />
kommt zum Kampf um Autoritäten. Und auf diesem Gebiet<br />
kommt der Postmodernismus sehr gut zurecht, denn die<br />
Autorität ist eine Hauptfigur, die den postmodernen<br />
Interdiskurs erzeugt.<br />
Die Autoritäten im Postmodernismus unterliegen<br />
spezifischen Generationswandlungen (dem generationsmäßigen<br />
Wechsel der Autoritäten), sie sind das Hauptmedium<br />
der Reproduktion, sorgen für ein Übermaß an<br />
Reproduktion (es gibt von ihnen mehr als gebraucht werden,<br />
deswegen müssen sie miteinander konkurrieren),<br />
unterliegen der Traditionalisierung und den Vererbungssequenzen;<br />
die Kreation der Autorität wird im Rahmen des<br />
Feldes als eine Innovation behandelt. Die Autoritäten<br />
unterliegen Substitutionsprozessen, der spontanen<br />
Selektion (die alten werden von den neuen verdrängt durch<br />
das Anhäufen der individuellen Präferenzen), der<br />
Konsekration. Ein Philosoph, genauso wie ein<br />
Sozialwissenschaftler, ist auch deswegen nicht imstande,<br />
eine postmoderne Autorität in Frage zu stellen, da die oben<br />
genannten Mechanismen der Autoritätserzeugung auch in<br />
ihren Feldern sehr wichtig sind. Aber die Autorität eines<br />
Naturwissenschaftlers kann die des Postmodernisten ins<br />
Wanken bringen, weil im Rahmen der Wissenschaft als<br />
einer Ganzheit die Autorität des Naturwissenschaftlers ein<br />
viel größeres symbolisches Kapital besitzt, als die quasiliterarische<br />
Autorität irgendwelcher Postmodernisten. Falls<br />
ein Scheinstreit um die Verbindlichkeit zwischen Einstein<br />
und Lyotard, Derrida und Niels Bohr, Gerhard Roth und<br />
Lacan wirklich erfolgte, wäre sein Ergebnis leicht absehbar.<br />
Sokal als Physiker gewinnt sehr einfach im Konflikt mit der<br />
Autorität „des Schriftstellers“ Lyotard. Um so mehr, als er<br />
gegen den Mechanismus der Aneignung der<br />
wissenschaftlichen Terminologie durch die Postmodernisten<br />
auftritt. Diese Aneignung ist nichts mehr als ein Versuch des<br />
Postmodernisten, seine schwankende Autorität durch die<br />
Autorität des Naturwissenschaftlers zu untermauern.