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Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

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Fremdverstehen als dialogische Hermeneutik<br />

Karsten Schmidt, Frankfurt am Main, Germany<br />

Eine zentrale, als „hermeneutischer Zirkel“ bekannte<br />

Einsicht der Hermeneutik besagt, dass jedes Verständnis<br />

geprägt und ermöglicht ist von einem Vorverständnis. Die<br />

Hauptgefahr des Verstehens besteht darin, die<br />

Bestimmungen seines Vorverständnisses über eine<br />

postulierte Metaposition absolut zu setzen und das zu<br />

Verstehende darauf zu reduzieren. Eine solche<br />

Vorgehensweise orientiert sich an<br />

erkenntnisfundamentalistischen Ansätzen, die versuchen,<br />

aus Inhalt und Form eines durch privilegierten<br />

Wirklichkeitsbezug ausgezeichneten<br />

Rationalitätskonzeptes heraus einen universellen Maßstab<br />

gesicherten Wissens zu gewinnen, mit dessen Hilfe man<br />

etwas „versteht“, indem man es in den Bestand der<br />

eigenen begrifflichen Vorgaben eingliedert. Im Rahmen<br />

einer interkulturellen Hermeneutik äußert sich dies als eine<br />

Reduktion des Fremden auf das Eigene, wodurch sich in<br />

den Darstellungen der thematisierten Denk- und<br />

Lebensweisen überwiegend das Selbstverständnis des<br />

Interpreten spiegelt, wogegen das Selbstverständnis des<br />

zu verstehenden Gegenübers nur verzerrt zum Ausdruck<br />

kommt.<br />

Zu einer Neubewertung der hermeneutischen<br />

Situation nötigt jedoch ein verändertes Vernunft- und<br />

Rationalitätsverständnis, wie es sich im Kontext der<br />

radikalisierten Moderne ausgebildet hat. Im Hinblick auf<br />

eine Methodik des Fremdverstehens zentral ist dabei die<br />

zunehmende Unglaubwürdigkeit absoluter<br />

Erkenntnisansprüche, weil alle Erkenntnisse sich als<br />

Derivate eines praktischen und symbolisch strukturierten<br />

Lebenszusammenhangs erweisen, dessen wechselhafte<br />

und kontingente Bedingungen in ihre Konstitution mit<br />

eingehen. Aus der Diversität variierender<br />

Bedingungskonstellationen ergibt sich synchron und<br />

diachron eine Vielheit von Rationalitätsformen, in die<br />

niemand über eine Metaposition privilegierten Einblick<br />

beanspruchen kann.<br />

Im Unterschied zu einem selbstbezüglich-zentrisch<br />

konzipierten Verhältnis zum Forschungsgegenstand, das<br />

letztlich monologisch strukturiert ist und das Fremde auf<br />

das Eigene reduziert, führen diese Einsichten zur<br />

Forderung nach einem dialogischen Verhältnis, d.h.<br />

Eigenes und Fremdes stehen sich auf gleicher Höhe<br />

gegenüber und man ist darauf angewiesen, im Verstehen<br />

des Fremden von dort her etwas in sich aufzunehmen, das<br />

über den Horizont des Eigenen hinausgeht und sich somit<br />

nicht aus dem Bestand des eigenen Erkenntnisschemas<br />

ableiten lässt. Für einen wissenschaftlichen<br />

Verstehensbegriff folgt daraus, dass das zu Verstehende<br />

nicht einfach ein Gegenstand ist, dem man gerecht wird,<br />

indem man ihn nach Maßgabe der eigenen<br />

Verständnisweise deutet, vielmehr handelt es sich um<br />

einen Gegenstand, der sich selbst bereits in bestimmter<br />

Weise versteht und dessen Selbstverständnis deshalb den<br />

eigentlichen Gegenstand bildet. Es kommt dann zunächst<br />

darauf an, der Differenz, die das andere Selbstverständnis<br />

im Unterschied zum eigenen kennzeichnet, genügend<br />

Raum zu geben.<br />

Gleichzeitig muss jedoch bedacht werden, dass<br />

Identifizierungen, Verallgemeinerungen und das<br />

Postulieren einer Metaposition (die jedoch immer einer<br />

partikularen Position immanent bleibt) letztendlich<br />

unvermeidlich sind. Der Vorsicht bezüglich<br />

identifizierender Übertragungen des Vorverständnisses in<br />

Form ungerechtfertigter Verallgemeinerungen steht also<br />

die Notwendigkeit eines minimalen Vorverständnisses<br />

gegenüber. Mit anderen Worten, das hermeneutische<br />

Verhältnis zu etwas beinhaltet zwei Aspekte: Differenz,<br />

aber auch Identität, denn wäre das zu Verstehende in<br />

jeder Hinsicht radikal anders wäre ein verstehender<br />

Zugang von vorn herein aussichtslos.<br />

Um also weder der Scylla reduktionistischer<br />

Vereinheitlichung noch der Charybdis völliger<br />

Inkommensurabilität zu verfallen, bedarf es einer<br />

begrifflichen Konzeption, welche die beiden hier<br />

relevanten Aspekte: a) die unreduzierbare Differenz des<br />

zu Verstehenden und b) die notwendigen<br />

Verallgemeinerungen und Identifizierungen in<br />

angemessener Weise integriert.<br />

Einen besonders geeigneten Anknüpfungspunkt<br />

hierfür bietet die Konzeption der „Sprachspiele“ im<br />

Spätwerk von <strong>Ludwig</strong> <strong>Wittgenstein</strong> (vgl. <strong>Wittgenstein</strong><br />

1984), sowie deren Anwendung auf die Probleme des<br />

Fremdverstehens bei Peter Winch (vgl. Winch 1987). Für<br />

unsere Zwecke zentral ist dabei der Gedanke, dass<br />

„Sprachspiele“ jeweils eigenen Regeln folgen, aus denen<br />

sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrucksgestalten<br />

ergibt. Für <strong>Wittgenstein</strong> besteht daher eine „Entsprechung<br />

zwischen den Begriffen >Bedeutung< und >Regel

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