Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
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<strong>Wittgenstein</strong> und Pyrrhonismus<br />
Rosario La Sala, Erlangen, Germany<br />
In den letzten Jahren wird <strong>Wittgenstein</strong> immer häufiger mit<br />
dem Pyrrhonismus in Verbindung gebracht (Fogelin 1994;<br />
Sluga 2004; Stern 2004; Williams 2004). Aber inwiefern,<br />
könnte man fragen, ist eine solche Charakterisierung<br />
berechtigt? Nur eine nähere Betrachtung der Texte des<br />
Sextus Empiricus – unsere Hauptquelle für den alten<br />
Pyrrhonismus – in Zusammenhang mit einigen<br />
philosophischen Motiven bei <strong>Wittgenstein</strong> kann uns<br />
Antwort auf diese Frage geben.<br />
Mit dem folgenden Beitrag beabsichtige ich<br />
zweierlei zu zeigen: einerseits, daß (i) die Philosophie des<br />
‚letzten‘ <strong>Wittgenstein</strong> einige wesentliche Merkmale<br />
aufweist, die – wie auch Fogelin ( 2 1987) behauptet – dem<br />
alten pyrrhonischen Skeptizismus gemeinsam sind;<br />
andererseits jedoch, daß (ii) der ‚Skeptizismus‘<br />
<strong>Wittgenstein</strong>s einen eigentümlichen Charakter besitzt, der<br />
im Zusammenhang mit seinem ‚philosophischen Stil‘ steht,<br />
einen Charakter, den man nicht adäquat erfassen könnte,<br />
würde man den Anspruch erheben, ihn ausschließlich mit<br />
einer herkömmlichen Kategorisierung wie derjenigen des<br />
‚alten Pyrrhonismus‘ zu beschreiben.<br />
Selbstverständlich setze ich mich hier nur mit einer<br />
möglichen Lesart der Philosophie <strong>Wittgenstein</strong>s<br />
auseinander, und zwar mit derjenigen der „Pyrrhonian<br />
<strong>Wittgenstein</strong>ians“ (Stern 2004, S. 35). Ich möchte nicht<br />
behaupten, sie sei die einzig richtige. Aber wenn sie<br />
zutrifft, ist es nützlich und instruktiv, die Gemeinsamkeiten<br />
und die Unterschiede zwischen diesem möglichen<br />
philosophischen Ansatz <strong>Wittgenstein</strong>s und dem des alten<br />
Pyrrhonismus genauer zu betrachten.<br />
1. Was <strong>Wittgenstein</strong> und der alte<br />
Pyrrhonismus gemeinsam haben<br />
(i) Die gemeinsamen Charakterzüge zwischen<br />
<strong>Wittgenstein</strong> und dem Pyrrhonismus betreffen sowohl (a)<br />
seine philosophische Position als auch (b) seine<br />
philosophische Methode (seine Art und Weise zu<br />
philosophieren). In Bezug auf (a) seine philosophische<br />
Position scheint mir, daß man zumindest die drei<br />
folgenden Punkte hervorzuheben hat:<br />
— (aa) Die Philosophie wird als eine therapeutische<br />
Tätigkeit betrachtet. <strong>Wittgenstein</strong> schreibt: „Philosophie ist<br />
ein Instrument, das nur zum Gebrauch gegen Philosophen<br />
und den Philosophen in uns dient.“ (MS 219, 11). In der<br />
Tat scheint dies der Hauptgrund der ‚Pyrrhonian<br />
<strong>Wittgenstein</strong>ians‘ zu sein, um ihre pyrrhonische Lesart zu<br />
bestätigen. Fogelin ( 2 1987, S. 233-234) bemerkt:<br />
„Classical scepticism was a critique of philosophizing and<br />
the anxieties it generates. […] <strong>Wittgenstein</strong> and the<br />
Pyrrhonians were concerned with the same object:<br />
philosophy as traditionally practiced. Their goal was the<br />
same: to eliminate it.“ (Daß letzteres – ‚the goal‘ –<br />
möglicherweise ein Mißverständnis ist wird sich am Ende<br />
meines Papers zeigen). Man könnte als paradigmatisch für<br />
die beschriebene Haltung Philosophische Untersuchungen<br />
(= PU) 133 heranziehen (vgl. PU 38, 118, 255):<br />
Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig<br />
macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. –<br />
Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr<br />
von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.<br />
– Sondern es wird nun an Beispielen eine Methode<br />
gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man<br />
abbrechen. – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten<br />
beseitigt), nicht ein Problem.<br />
Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber<br />
gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.<br />
(PU 133)<br />
Nun, Sextus erinnert uns in seinem Grundriß der<br />
pyrrhonischen Skepsis (= P) daran, daß „der Skeptiker [...]<br />
aus Menschenfreundlichkeit nach Kräften die Einbildung<br />
und Voreiligkeit der Dogmatiker durch Argumentation<br />
heilen“ will (P 3.280). Die philosophische Argumentation ist<br />
nichts anderes als ein Instrument, ein Mittel, das auf<br />
verschiedene Weise verwendet werden kann, um sich von<br />
einem kranken Zustand zu befreien:<br />
Wie nun die Ärzte für die körperlichen Leiden<br />
verschiedene kräftige Heilmittel besitzen und den<br />
Schwererkrankten die starken unter ihnen verabreichen,<br />
den Leichterkrankten dagegen die leichteren, so stellt<br />
auch der Skeptiker verschieden starke Argumente auf<br />
und benutzt die schwerwiegenden, die das Leiden der<br />
Dogmatiker, die Einbildung, nachhaltig beheben können,<br />
bei den stark vom Übel der Voreiligkeit Befallenen, die<br />
leichteren dagegen bei denen, deren Leiden der<br />
Einbildung nur oberflächlich und leicht heilbar ist und<br />
von leichteren Überzeugungsmitteln behoben werden<br />
kann. (P 3.280-281)<br />
— (ab) Der Umstand, daß der Skeptizismus nur<br />
einen punktuellen, keinen universellen Charakter haben<br />
kann; in diesem Punkt ist <strong>Wittgenstein</strong> ganz explizit in<br />
Über Gewißheit (= ÜG), und dies wird normalerweise als<br />
eine Kritik an dem Skeptizismus aufgefasst (Kenny 1973);<br />
wenn man allerdings diese Kritik unter Berücksichtigung<br />
von Stellen wie PU 133 (gerade zitiert) betrachtet, so sieht<br />
man, daß sie sich auf den philosophischen Skeptizismus<br />
bezieht, sprich auf (in Termini von PU 133) eine Methode<br />
der Philosophie, die den Anspruch auf eine allgemeine<br />
vollständige Lösung der Probleme erhebt („Es werden<br />
Probleme gelöst […], nicht ein Problem.“). So schreibt<br />
<strong>Wittgenstein</strong> in ÜG:<br />
»Jedes einzelne dieser Fakten könnten wir bezweifeln,<br />
aber alle können wir nicht bezweifeln.«<br />
Wäre es nicht richtiger zu sagen : »alle bezweifeln wir<br />
nicht.«<br />
Daß wir sie nicht alle bezweifeln, ist eben die Art und<br />
Weise, wie wir urteilen, also handeln.(ÜG 232)<br />
Ein Zweifel, der an allem zweifelte, wäre kein Zweifel.<br />
(ÜG 450)<br />
Wie verhält es sich mit dem alten Pyrrhonismus?<br />
Hat er nicht eine universelle Enthaltung des Urteils<br />
gepredigt, eine, die sich allgemein auf jeden<br />
Untersuchungsgegenstand, gleichgültig welcher Natur,<br />
erstreckt? Die entscheidende Stelle für die<br />
Charakterisierung der alten Pyrrhoneer bezüglich dieser<br />
Problematik ist P 1.12: Sextus berichtet hier darüber, daß<br />
Ausgangspunkt der Philosophie eines Pyrrhoneers eine<br />
gewisse Beunruhigung ist, die durch die Wahrnehmung<br />
einer Ungleichförmigkeit (an malia) in den Dingen<br />
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