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Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

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Auf der Grundlage von <strong>Wittgenstein</strong>s<br />

Sprachspielkonzeption und deren Weiterführung durch die<br />

Unterscheidung verschiedener Arten von Regeln kann der<br />

Prozess des Verstehens fremden Denkens im Sinne einer<br />

dialogischen Hermeneutik nun genauer bestimmt werden.<br />

Das Verhältnis des eigenen zum fremden Denken wurde<br />

beschrieben als die Konfrontation unterschiedlicher<br />

Systeme bedeutungs-konstituierender Regeln. Die<br />

hermeneutische Annäherung an das fremde Denken<br />

besteht darin, die Regeln des anderen „Sprachspiels“ zu<br />

lernen. Dabei muss man von den Regeln der eigenen<br />

Denkweise ausgehen, die das jeweilige Vorverständnis<br />

bilden.<br />

Wie wir sahen, bringt jedes Vorverständnis, das<br />

über die Minimalbestimmung eines hermeneutischen<br />

Gegenstandes hinausgeht, die Gefahr mit sich, das<br />

andere Selbstverständnis durch eigene Anschauungen zu<br />

entstellen. Daher ist es hermeneutisch kontraproduktiv, die<br />

Metaebene von Eigenem und Fremdem über dieses<br />

Minimum (Regelrationalität) hinaus zu bestimmen. In der<br />

konkreten Begegnung ist man allerdings immer schon von<br />

einem weitergehenden Vorverständnis geprägt, denn<br />

letztendlich bildet die eigene Denkweise insgesamt dieses<br />

Vorverständnis und ist daher im Verstehensprozess<br />

unverzichtbar. Man muss also die explizierbaren Aspekte<br />

seiner Denkweise, soweit sie in der Begegnung mit dem<br />

fremden Denken relevant werden, offensiv in den<br />

Verstehensprozess einbringen, ohne sie jedoch dem zu<br />

Verstehenden gegenüber erkenntnisfundamentalistisch<br />

auszuzeichnen und dabei das Fremde auf das Eigene zu<br />

reduzieren. Vielmehr besteht der Prozess des Verstehens<br />

darin, das Eigene auf das Fremde hin zu erweitern. In<br />

dieser Erweiterung liegt das dialogische Moment, denn<br />

man nimmt von dem Fremden etwas in sich auf, das man<br />

nicht (monologisch) aus dem Eigenen abgeleitet hat.<br />

Die erweiterten Regeln, mit denen man sich dem zu<br />

Verstehenden expliziten Selbstverständnis (also Regeln<br />

2b)) annähert, entsprechen auf der eigenen Seite denen<br />

der Kategorie 2a). D.h. man erweitert seinen Horizont des<br />

prinzipiell Verständlichen, bewahrt sich aber innerhalb<br />

dessen einen eigenen Standpunkt, dem das zu<br />

verstehende Denken als ein anderer gegenübersteht,<br />

konstituiert jeweils durch Regeln der Kategorie 2b). Auf<br />

diese Weise bleibt einerseits eine Kritik des anderen<br />

möglich (auf der Grundlage der Regeln des eigenen<br />

Standpunktes), andererseits ist durch ein Verstehen der<br />

fremden Denkweise auch eine intensivierte bzw. vermittelt<br />

durch den externen Standpunkt eines anderen<br />

Selbstverständnisses überhaupt erst eine veritable<br />

Selbstkritik möglich (weil in der reinen Selbstbezüglichkeit<br />

Gegenstand und Vollzugsmedium der Kritik identisch sind<br />

und somit Teile des eigenen Denkens, die man in der<br />

Selbstkritik verwendet, einer Kritik entzogen bleiben).<br />

Eine dialogische Hermeneutikkonzeption auf der<br />

Basis eines durch die genannten Differenzierungen<br />

erweiterten Konzeptes von Regelrationalität kann somit<br />

den beiden größten Gefahren der interkulturellen<br />

Begegnung entgehen: entweder die eigene Sicht der<br />

Dinge normativ absolut zu setzen oder einem<br />

Beliebigkeitspluralismus zu verfallen. Andererseits eröffnet<br />

sie die Möglichkeit, sich auf der Grundlage einer<br />

nichtreduktionistischen Wahrnehmung in der kulturellen<br />

Vielfalt angemessen zu orientieren und dabei kritisch<br />

gegenüber anderem und sich selbst zu sein.<br />

Fremdverstehen als dialogische Hermeneutik - Karsten Schmidt<br />

Literatur:<br />

Ryle, Gilbert 1969 Der Begriff des Geistes, Stuttgart: Reclam<br />

Winch, Peter 1987 Was heißt „eine primitive Gesellschaft<br />

verstehen“?, in: Hans G. Kippenberg und Brigitte Luchesi (eds.),<br />

Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das<br />

Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 73-119.<br />

<strong>Wittgenstein</strong>, <strong>Ludwig</strong> 1984 Philosophische Untersuchungen, in:<br />

Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

<strong>Wittgenstein</strong>, <strong>Ludwig</strong> 1984a Über Gewißheit, in: Werkausgabe Bd.<br />

8, Frankfurt a. M.: Suhrkamp<br />

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