Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
Deuten – Missverstehen – ‚Blasphemie‘: Grenze und Potential eines<br />
offenen Übersetzungsbegriffs<br />
Britta Saal, Heinrich-Heine-University Düsseldorf, Germany<br />
1. Übersetzen im interkulturellen Kontext<br />
Als ein zentrales Problem der interkulturellen Philosophie<br />
erweist sich die Frage nach der Möglichkeit bzw. der Art<br />
und Weise des interkulturellen Dialogs/Polylogs; einen<br />
wichtigen Aspekt stellt dabei das Übersetzen dar. Gerade<br />
im interkulturellen Kontext scheint es, angesichts der<br />
gegenwärtigen, durch Migration und Postkolonialität<br />
geprägten globalen Situation und angesichts der<br />
Herausbildung neuer und vielschichtiger „translokaler<br />
Identitäten“ (vgl. Bachmann-Medick 1994, 594),<br />
zunehmend angebracht, hinsichtlich interkulturellen<br />
Verstehens und interkultureller Verständigung die<br />
herkömmliche Auffassung von Übersetzung neu zu<br />
überdenken. In diesem Vortrag soll nun dem Potential<br />
eines offenen Übersetzungsbegriffs nachgegangen<br />
werden, wie er in <strong>Wittgenstein</strong>s Philosophischen<br />
Untersuchungen und in postkolonialen Ansätzen<br />
anzutreffen ist. Meine Leitfragen dabei sind: Kann<br />
Übersetzen als Sprache aufgefasst werden – vielleicht als<br />
„Sprache der Interkulturalität“, wie der kubanische<br />
Philosoph Raúl Fornet-Betancourt vorschlägt? 1 Und wenn<br />
ja, welche Lebensform wäre die des Übersetzens?<br />
Das Verständnis von Übersetzung in relativistisch<br />
orientierten Übersetzungstheorien gründet auf einer<br />
Vorstellung vom Text als einem „Original“, als einer<br />
„unverwechselbaren individuellen Identität und kulturellen<br />
Standortgebundenheit“ (Bachmann-Medick 1994, 595). In<br />
diesen Theorien wird die Sprache als ein in sich<br />
geschlossenes System betrachtet, das in erster Linie zur<br />
Beschreibung des eigenen Weltbildes dient; grundlegend<br />
dafür ist Humboldts Auffassung von der direkten<br />
Abhängigkeit des Denkens von der Muttersprache. Da auf<br />
diese Weise in den verschiedenen Sprachen verschiedene<br />
Konzeptionen der Wirklichkeit entstehen, wird von einer<br />
grundsätzlichen und unüberwindlichen<br />
Strukturverschiedenheit zwischen den verschiedenen<br />
Sprachsystemen ausgegangen (siehe z. B. Whorfs<br />
linguistisches Relativitätsprinzip). Generell gelten nach<br />
dieser Auffassung Texte als prinzipiell unübersetzbar,<br />
wohingegen die universalistische Auffassung von der<br />
prinzipiellen Übersetzbarkeit von Texten ausgeht. Die<br />
Sprache gilt als ein der Kommunikation dienendes logisch<br />
beschreibbares Zeichensystem, in dem die Sprachzeichen<br />
analysierbar bzw. nach bestimmten Regeln<br />
transformierbar sind (siehe z. B. Chomskys generative<br />
Transformationsgrammatik). Auch wird von einem<br />
‚übergeordneten Dritten‘ ausgegangen, das von jeder<br />
Sprache aus gleichermaßen erfassbar ist (siehe z. B.<br />
Koschmieders tertium comparationis). Aus den beiden<br />
Arten von Übersetzungstheorien ergibt sich zum einen die<br />
Problematik des Kulturrelativismus: Es gibt nichts<br />
Verbindendes und zum anderen die Problematik des<br />
Universalismus: der eurozentrische Blick.<br />
Diese europäische Rede wird durch die<br />
postkoloniale Debatte unterbrochen, indem man die Idee<br />
von fest umrissenen Bedeutungen, die Idee von<br />
umgrenzten und definierten Kultureinheiten sowie die Idee<br />
1 Diese These formulierte Fornet-Betancourt auf dem XXI. Weltkongress für<br />
Philosophie 2003 in Istanbul im Rahmen der Round-Table-Diskussion<br />
„Intercultural Philosophical Dialogue South-South“.<br />
284<br />
von abgeschlossenen Identitäten zunehmend<br />
dekonstruiert und dagegen Prozessualität und Differenz<br />
betont. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass eine<br />
Kultur stets sowohl durch Konstruktionen von Alterität als<br />
auch durch Verknüpfungen mit anderen Kulturen,<br />
sozusagen durch Transkulturalität, geprägt ist – Texte wie<br />
Kulturen können demnach nicht mehr als „Originale“ im o.<br />
g. Sinn aufgefasst werden (vgl. Bachmann-Medick 1994,<br />
592). Die Thematik des Übersetzens sollte daher nicht<br />
beschränkt werden auf Literatur- bzw. Textübersetzung.<br />
Übersetzung sollte vielmehr verstanden werden als<br />
„gesamtsemantisches Phänomen der Übertragung, das<br />
sich von der Nachahmung von Gesten und Ritualen über<br />
die Übernahme von Institutionen bis zur schriftlichen<br />
Übersetzung philosophischer Werke erstrecken kann“<br />
(Shimada 2001, 114/15), und in diesem Sinn als „kulturelle<br />
Übersetzung“ (vgl. Bhabha 2000a).<br />
Auch wenn mit <strong>Wittgenstein</strong> in den letzten Jahren<br />
immer wieder von soziologischer und<br />
kulturanthropologischer Seite aus hinsichtlich der Frage<br />
nach dem Verstehen fremder Lebensformen bzw. nach<br />
der Möglichkeit, den Bedingungen und den Grenzen von<br />
Verstehen, eine Auseinandersetzung stattfand, 2 taucht die<br />
Thematisierung des Übersetzens dabei eher indirekt auf.<br />
Die vorrangige Thematisierung des Verstehens und<br />
weniger des Übersetzens liegt wohl daran, dass<br />
<strong>Wittgenstein</strong> selbst das Übersetzen nicht eigens<br />
thematisiert hat. Im Folgenden soll nun anhand von<br />
Textstellen aus den Philosophischen Untersuchungen und<br />
deren unmittelbaren Kontexten „geschaut“ werden, wie<br />
<strong>Wittgenstein</strong> den Ausdruck ‚Übersetzen‘ verwendet bzw.<br />
wie er Übersetzen versteht und dessen Möglichkeit und<br />
Grenze begründet.<br />
2. Übersetzen in <strong>Wittgenstein</strong>s<br />
Philosophischen Untersuchungen<br />
2.1 Übersetzen als Motiv zur Kritik an einer<br />
bestimmten Denkweise<br />
Wie im Folgenden ersichtlich werden wird, dient<br />
<strong>Wittgenstein</strong> der Verweis auf den Übersetzungsvorgang<br />
zur Kritik an einer realistischen bzw. universalistischen<br />
sprachphilosophischen Denkweise – in diesem Sinne<br />
verwendet <strong>Wittgenstein</strong> den Ausdruck ‚Übersetzen‘<br />
motivisch wiederkehrend. Den Fehler dieser Denkweise<br />
sieht <strong>Wittgenstein</strong> darin, dass man 1) Sprache als ein vom<br />
Handeln isoliertes Phänomen und 2) auch die Gedanken<br />
und ‚das Gemeinte‘ als unabhängig und unterschieden von<br />
den sprachlichen Ausdrücken auffasst. Das Problem dabei<br />
ist, dass man einerseits sprachlich fassen will, was man<br />
andererseits vom sprachlichen Ausdruck loslöst. Die<br />
Beziehung oder Vermittlung zwischen diesen beiden<br />
‚Ebenen‘, so unterstellt nun <strong>Wittgenstein</strong>, wird schematisch<br />
gedacht wie eine Übersetzung. <strong>Wittgenstein</strong> selbst hält<br />
dem entgegen, dass es im Sprachspiel eine solche<br />
Trennung nicht gibt und sich daher das Problem einer wie<br />
auch immer gearteten Übersetzung nicht mehr stellt. Der<br />
2 Siehe z. B. Deloch 1997, Lütterfelds/Roser (eds.) 1999, Lütterfelds/Mohr<br />
(eds.) 2000, Lütterfelds/Salehi (eds.) 2001.