Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
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Indeterminismus freier Willensentscheidungen: ontisch,<br />
epistemisch oder logisch?<br />
Helmut Fink, University of Erlangen-Nürnberg, Germany<br />
1. Das Problem der alternativen<br />
Möglichkeiten in der Debatte um die<br />
Willensfreiheit<br />
Die neuronalen Korrelate mentaler Zustände unterliegen<br />
den Gesetzen der Physik. Die alte Debatte darüber, was<br />
das für die vorwissenschaftlichen Intuitionen von<br />
menschlicher Freiheit bedeutet, wird seit einigen Jahren<br />
von Neurowissenschaftlern und Philosophen wieder<br />
verstärkt geführt. Dabei hat sich gezeigt, dass das Prinzip<br />
der Urheberschaft (Zurechenbarkeit zur Person), das<br />
Prinzip der Intelligibilität (Mitteilbarkeit bzw.<br />
Rekonstruierbarkeit von Entscheidungsgründen) und das<br />
Prinzip der alternativen Möglichkeiten (Legitimation<br />
kontrafaktischer Rede) nicht alle drei in starker Form<br />
aufrecht erhalten werden können (siehe etwa Goschke<br />
und Walter 2005).<br />
So setzt die sichere Zurechenbarkeit einer<br />
Willensentscheidung deterministische Kausallinien voraus,<br />
um die resultierende Handlung auf die willentlich<br />
handelnde Person zurückführen zu können, schließt<br />
genau dadurch aber die Möglichkeit alternativer<br />
Handlungen aus. Umgekehrt sind ontische<br />
Zufallsereignisse zwar der Beginn von Kontrafaktizität,<br />
gleichzeitig jedoch das Ende von Urheberschaft.<br />
Intelligibilität wiederum ist weder mit der weiteren<br />
Rückverfolgung deterministischer Kausallinien (hinter die<br />
Willensentscheidung zurück und aus der Person hinaus)<br />
vereinbar noch mit der Annahme ontischer<br />
Zufallsereignisse im Entscheidungsprozess.<br />
Vor diesem Hintergrund hat sich eine<br />
kompatibilistische Auffassung von Willensfreiheit als<br />
zweckmäßig erwiesen, d.h. ein Verständnis freier<br />
Willensentscheidungen, das mit der<br />
naturwissenschaftlichen Beschreibung der unterliegenden<br />
neuronalen Prozesse verträglich ist. Dabei werden die<br />
Fähigkeiten und Präferenzen der sich entscheidenden<br />
Person zum zentralen Kriterium für die Freiheit der<br />
Entscheidung erhoben (vgl. etwa Bieri 2001, Beckermann<br />
<strong>2006</strong>). Die Rückverfolgung von Kausallinien endet mit<br />
einem methodischen Schnitt, der den Übergang zur<br />
makroskopischen Rede von „Person“ anzeigt. So kann<br />
personale Urheberschaft rekonstruiert werden, ohne dabei<br />
die Existenz vorgängiger Kausallinien zu leugnen.<br />
Intelligibilität kann durch den methodischen<br />
Ebenenwechsel von der materiellen Beschreibung zur<br />
Zuschreibung von Gründen und Motiven rekonstruiert<br />
werden, ebenfalls ohne dabei die Durchgängigkeit der<br />
materiellen Beschreibbarkeit (etwa der neuronalen<br />
Dynamik) zu leugnen.<br />
Es verbleibt die Frage, was aus der Intuition der<br />
alternativen Möglichkeiten wird. Diese Intuition erscheint<br />
sehr robust: Sie gänzlich zur Illusion erklären zu wollen,<br />
würde dem kompatibilistischen Konzept der Willensfreiheit<br />
erhebliche Plausibilität rauben und letztlich einer<br />
inkompatibilistischen Auffassung das Wort reden, die dann<br />
Willensfreiheit schlechthin zur Illusion erklärt. Daher ist von<br />
Interesse, welcher Geltungsanspruch für<br />
indeterministische Beschreibungselemente und<br />
Sprechweisen im Rahmen einer kompatibilistischen<br />
Grundposition noch erhoben werden kann. Das ist die<br />
Leitfrage dieses Beitrags.<br />
2. Drei Sorten von Indeterminismus<br />
Zur Schärfung der Argumente betrachten wir ein<br />
idealisiertes Universum, in dem alle materiellen<br />
(einschließlich neuronaler) Prozesse deterministischen<br />
Verlaufsgesetzen folgen, die erforschbar sind und als<br />
bekannt vorausgesetzt werden sollen.<br />
Ontischer Indeterminismus kommt in einem solchen<br />
Universum nicht vor. Die objektive Unbestimmtheit von<br />
Quantenobjekten ist unserer Idealisierung zum Opfer<br />
gefallen. Für die materiellen Korrelate bewusster<br />
Deliberation oder unbewusster Abwägungs- und<br />
Verrechnungsprozesse bedeutet das keine wesentliche<br />
Einschränkung, denn Unterbrechungen neuronaler<br />
Kausallinien würden die Zurechenbarkeit von<br />
Entscheidungen schon konzeptionell bedrohen (siehe<br />
Abschnitt 1). Außerdem liegt bis jetzt keine überzeugende<br />
neurophysiologische Evidenz für solche Unterbrechungen<br />
vor. Falls überhaupt aufweisbar, wären sie wohl eine<br />
vernachlässigbare Ausnahmeerscheinung. Für die Umwelt<br />
außerhalb der handelnden Person stellt der Ausschluss<br />
des ontischen Indeterminismus jedoch eine echte<br />
Einschränkung dar, auf die wir am Ende zurückkommen.<br />
Epistemischer Indeterminismus aus der<br />
Beschreibungsperspektive der 3. Person gegenüber einer<br />
sich (kompatibilistisch) frei entscheidenden Person mag<br />
auftreten, etwa durch begrenzte Rechenkapazität der 3.<br />
Person oder durch neuronale Prozesse der sich<br />
entscheidenden Person, deren Berechnung algorithmisch<br />
irreduzibel sind. Aber erstens erscheinen solche<br />
Begrenzungen der Beschreibung nicht zwingend (und<br />
angesichts der realen Erforschbarkeit von<br />
Entscheidungsdeterminanten heuristisch eher<br />
unplausibel), und zweitens ist ihre Relevanz für das<br />
Verständnis von Willensfreiheit zweifelhaft: Die ontische<br />
Ebene bleibt ja deterministisch strukturiert, und auch das<br />
Erleben der sich entscheidenden Person bleibt somit<br />
festgelegt. Partielle Unkenntnis einer 3. Person ändert<br />
daran nichts. Eine Offenheit der Zukunft wird so nicht<br />
begründet, sondern lediglich ihre Voraussagbarkeit<br />
erschwert oder verhindert.<br />
Natürlich kann man den Gegenstandsbereich der<br />
Beschreibung auf die sich entscheidende Person<br />
einschränken und ihre Umwelt (einschließlich aller<br />
Mitmenschen und ihrer Äußerungen) als Variable<br />
betrachten. Dann erscheint die Zukunft der Person offen:<br />
Sie wird auf verschiedene Situationen verschieden<br />
reagieren und vielleicht sogar durch neue Argumente<br />
beeinflussbar sein. Doch ist der unterliegende<br />
Determinismus dabei bloß durch die Restriktion der<br />
Beschreibung von einem größeren isolierten auf ein<br />
kleineres offenes System aus dem Blick geraten. Die<br />
vermeintliche Offenheit der Zukunft ist daher ein Artefakt<br />
dieser Restriktion.<br />
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