Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
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Nachdenken über Gewissheit – Zur Artikulierbarkeit und<br />
Verhandelbarkeit unseres kulturellen Hintergrundkönnens und<br />
-wissens<br />
Beatrice Kobow, University of Berkely, USA<br />
„By taking scepticism seriously, and by attempting to<br />
show that it is based on a profound misunderstanding of<br />
language, <strong>Wittgenstein</strong> helped to remove scepticism<br />
from the centre of the philosophical agenda…“ (Searle<br />
2005, 319)<br />
Obwohl der Skeptizismus, laut John R. Searle, seit<br />
<strong>Wittgenstein</strong> nicht mehr im Zentrum des Philosophierens<br />
steht, und obwohl <strong>Wittgenstein</strong> mit seinem Werk<br />
sozusagen unfreiwillig einer systematischen,<br />
theoretischen, konstruktiven Philosophie den Weg bereitet<br />
hat, die er selbst für unmöglich hielt (Searle, ebenda),<br />
bleibt die Frage nach den Hintergründen menschlichen<br />
Verstehens offen zur Beantwortung durch die<br />
zeitgenössische Philosophie; vor allem im Kontext<br />
scheinbarer oder wirklicher kultureller Inkompatibilitäten<br />
und ihrer enormen Konsequenzen gewinnt dieses Thema<br />
an Relevanz.<br />
Der skeptische Zweifel ist ein Welt-Zweifel.<br />
<strong>Wittgenstein</strong> zeigt in Über Gewissheit, dass ein solcher<br />
Zweifel nicht artikuliert werden kann. Zweifeln kann man<br />
nur an einem Wissen im weiteren Sinn, d.h. an einem<br />
intentionalen Zustand (z.B. auch an einer Wahrnehmung<br />
oder einem Glauben), dessen Gelingensbedingungen<br />
verifizierbar oder falsifizierbar sind. Nicht-intentionale<br />
Zustände sind nicht bezweifelbar, weil sie keine<br />
Gelingensbedingungen haben.<br />
Die Sätze, die <strong>Wittgenstein</strong> in Auseinandersetzung<br />
mit Moores Verteidigung des gesunden<br />
Menschenverstandes auf ihre Bezweifelbarkeit hin<br />
untersucht und für nicht-bezweifelbar befindet, sind Sätze,<br />
die in Searles Modell zum nicht-intentionalen<br />
Hintergrundwissen gehören.<br />
Der Unmöglichkeit des Zweifelns am<br />
Wissenshintergrund begründet durch die logische<br />
Unmöglichkeit eines solchen Zweifels innerhalb unseres<br />
Sprachspiels steht die reale Erfahrung der<br />
Hintergrundinkompatibilitäten und die potentielle,<br />
individuelle, oder sogar kollektive, Erfahrung des<br />
Zusammenbruchs einer solchen vor-intentionalen, vorlinguistischen<br />
Grundlage für Intentionalität entgegen.<br />
Wenn der Hintergrund unseres Wissens nicht bezweifel-<br />
oder artikulierbar ist, ist er einer rationalen Kontrolle<br />
zugänglich?<br />
Zunächst zum Vergleich des <strong>Wittgenstein</strong>schen<br />
Begriffes der Gewissheit mit dem Konzept des<br />
Hintergrundes bei John R. Searle: Ich untersuche die<br />
Probleme der Formulierbarkeit des Hintergrundkönnens<br />
und –Kennens (des Sagbaren und Unsagbaren), der<br />
Erfahrbarkeit der Gewissheit (des Sagens und Zeigens),<br />
und der Zweiteilung des Hintergrundes in biologische und<br />
kulturelle Fähigkeiten und Anlagen.<br />
Moore antwortete auf die These des Skeptizismus,<br />
dass wir manche Dinge nicht wissen können, mit dem Satz<br />
Aber ich weiß sie! (<strong>Wittgenstein</strong> 1970, 135, § 521)<br />
<strong>Wittgenstein</strong> zeigt auf, dass eine Behauptung der Art des<br />
Skeptizismus nicht mit einer Gegenbehauptung entkräftet<br />
werden kann. Wenn <strong>Wittgenstein</strong>s Untersuchung des<br />
150<br />
Begriffs Gewissheit notwendig war, um Moores<br />
Zurückweisung des Sekptizismus in ihrer Formulierung zu<br />
berichtigen (Malcolm 1986, 152), so kann Searles Konzept<br />
des Hintergrundes uns helfen zu verstehen, welche<br />
eigentümliche logische Rolle die ohne Prüfung bejahten<br />
Erfahrungssätze, d.i. der vor-intentionale Hintergrund, im<br />
(gesellschaftlichen) System unseres Wissens spielen<br />
(<strong>Wittgenstein</strong> 1970, 43, § 136).<br />
Intentionale Zustände zeichnen sich durch ihre<br />
propositionale Bestimmtheit aus; sie handeln immer ‚von’<br />
etwas und können durch einen dass-Satz näher bestimmt<br />
werden. Sie haben spezifische Erfüllungsbedingungen.<br />
Diese sind z.B. in Fällen des Glaubens, Wollens, Erinnerns<br />
und Wahrnehmens Wahrheitsbedingungen (Searle 1983,<br />
91 und 97). Das Postulieren des nicht-intentionalen<br />
Hintergrundes ist ein notwendiger logisch-argumentativer<br />
Schritt zur befriedigenden Erklärung intentionalen<br />
Handelns. Wir können bei der Handlungserklärung nicht<br />
bloß auf ein Netzwerk intentionaler Zustände verweisen,<br />
die einander bedingen, denn dies resultiert in einem<br />
infiniten Regress. Um Handlungen vollständig zu erklären,<br />
muss auf ein großes Repertoire nicht-intentionaler und<br />
damit nicht-begrifflicher Hintergrundkenntnisse und<br />
Fähigkeiten verwiesen werden (Searle 1983, 141-142).<br />
Searle schlägt eine Analyse des Hintergrunds anhand von<br />
Fehlleistungen vor. Obwohl solche Hintergrund-<br />
Fehlleistungen sich negativ auf das Gelingen intentionaler<br />
Zustände auswirken und hier sichtbar werden, liegt der<br />
Fehler nicht auf der Ebene der Intentionalität, sondern auf<br />
der Ebene der vorintentionalen Bedingungen für das<br />
Haben von intentionalen Zuständen (Searle, 1983, 155).<br />
Bei der Darstellung des Hintergrundes ex positivo<br />
ergeben sich begriffliche Schwierigkeiten, denn das<br />
intentionalistische Vokabular, mit dem wir den Hintergrund<br />
beschreiben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir<br />
es mit nicht-begrifflichen, nicht-intentionalen Bedingungen<br />
für Intentionalität zu tun haben, für die keine<br />
Wahrheitswerte und keine anderen Gelingensbedingungen<br />
angegeben werden können (Searle, 1983, 156).<br />
Die Searle-<strong>Wittgenstein</strong>-Einsicht ist die, dass wir<br />
nicht nach dem Zwiebelprinzip ein zweites Sprachspiel um<br />
das Sprachspiel der Alltagssprache herum konstruieren<br />
können, in dem wir den Hintergrund darstellen, sondern<br />
dass der Hintergrund per definitionem außerhalb eines<br />
jeden Sprachspiels steht: „Ich will eigentlich sagen, daß<br />
ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas<br />
verlässt. (Ich habe nicht gesagt „auf etwas verlassen<br />
kann.“)“ (<strong>Wittgenstein</strong> 1970, 131, § 509)<br />
<strong>Wittgenstein</strong>s Beschäftigung mit dem<br />
Wissenshintergrund konzentriert sich auf das Verstehen<br />
von Sätzen; allerdings sind diese Sätze wiederum<br />
Voraussetzung und Beispiele für unsere Teilnahme an<br />
öffentlichen Praxen. Die Sprachpraxis ist für <strong>Wittgenstein</strong><br />
das grundlegendste Beispiel für die Unmöglichkeit des<br />
Weltzweifels. Regeln und Konzepte sind nicht selbstanwendend,<br />
d.h. wir bedürfen eines praktischen Wissens<br />
der Anwendung, um diese Regeln zu benutzen<br />
(<strong>Wittgenstein</strong> 1970, 46, § 145), dies zeigt sich sowohl beim