Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
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Interkulturelle Philosophie in Russland: Tradition und Neuorientierungen - Maja Soboleva<br />
1993). Für die Kulturentwicklung der Menschheit ist folglich<br />
eine permanente Verschiebung und Abwechselung von<br />
Zentrum und Peripherie charakteristisch.<br />
Die russische interkulturelle Philosophie des 21.<br />
Jahrhunderts, die sich als „komparatistische Philosophie“<br />
kennzeichnet, entwickelt die Idee der Interkulturalität jeder<br />
Kultur. Dabei transformiert sie diese und verwandelt sie in<br />
eine Form des philosophischen Selbstbewusstseins: eine<br />
selbstbewusste Philosophie solle ihre eigene<br />
Interkulturalität anerkennen. Letzteres erneuert die<br />
methodischen Grundlagen philosophischer Reflexion<br />
einschließlich der vergleichenden Kulturforschung und<br />
transkulturellen Ethik. Die moderne komparatistische<br />
Philosophie akzeptiert Multiplizität der Welten, die friedlich<br />
koexistieren und einen Dialog miteinander herstellen<br />
müssen. Die Grundprinzipien der modernen russischen<br />
Komparatistik wurden unter dem Einfluss der Postmoderne<br />
entwickelt, die das Ende der Meta-Erzählungen,<br />
Dezentrierung des Sinns und Dispersion des Subjekts,<br />
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Relativierung der<br />
Werte etc. behauptet. Sie geht deshalb davon aus, dass<br />
Perspektivität als eine allgemeine und notwendige<br />
Bedingung von Erfahrung und Erkenntnis und die Vielfalt<br />
an Standards der Richtigkeit, denen menschliche<br />
Konstruktionen unterworfen sind, ein nicht hintergehbares<br />
Apriori des Theoretisierens im Bereich der Kulturforschung<br />
ausmachen müssen. Dies ruft eine Änderung der<br />
Vorstellung von Universalismus hervor: nicht die Idee einer<br />
Verallgemeinerung eines regionalen Etalons zu dem<br />
Allgemeinmenschlichen, sondern die Idee einer weltweiten<br />
Synthese leitet nun die Gedanken.<br />
In Bezug auf die Grundlagen einer philosophischen<br />
Komparatistik, deren Gegenstand nationale<br />
philosophische Kulturen sind, spezifiziert sich diese Idee<br />
einer weltweiten Synthese folgendermaßen: „Die Bildung<br />
eines gemeinsamen philosophischen Raums wird zu einer<br />
der leitenden Forschungsrichtungen in der Entwicklung der<br />
Komparatistik“ (Kolesnikov 2004). Die moderne russische<br />
philosophische Komparatistik sieht ihre Aufgabe in der<br />
„Schaffung einer universalen Metasprache einer<br />
Weltphilosophie“ (Kolesnikov 2004). Den Hintergrund für<br />
diese Formulierung bildet die Ansicht auf die<br />
Zusammengehörigkeit und Unauflöslichkeit einzelner<br />
Kulturen und Regionalgeschichten, die die Weltkultur und<br />
Weltgeschichte der Menschheit ausmachen.<br />
Diese universale philosophische Metasprache soll<br />
man nicht als ein Lexikon verstehen, das eine Gesamtheit<br />
geordneter, gegenseitig übersetzbarer Begriffe darstellt.<br />
Außer einer semantisch-syntaktischer Dimension muss<br />
diese Sprache auch eine hermeneutische Dimension<br />
haben: sie soll im Sinne Michail Bachtins als Polyphonie<br />
verschiedener gleichberechtigter Sprachen begriffen<br />
werden, von denen jede ihre eigene unikate Stimme hat.<br />
Eine solche Metasprache existiert in Form eines Dialogs,<br />
wobei der Dialog als eine Interaktion, als ein komplizierter<br />
und vielschichtiger Prozess der Selbstdarstellung und<br />
Objektivierung im miteinander Sprechen interpretiert<br />
werden muss. Die Möglichkeit eines solchen weltweiten<br />
philosophischen Dialogs basiert auf einer besonderen<br />
Einstellung der Menschen zur Welt, die solche Aspekte<br />
wie Verantwortung, gegenseitiges Verständnis,<br />
Gleichberechtigkeit und Kreativität umfaßt. Die moderne<br />
Komparatistik stellt weiter die Aufgabe der Erarbeitung<br />
eines idealen Modells des Selbstbewusstseins, das die<br />
Grenze einer konkreten kultur-historischen Tradition<br />
überschreitet und eine „universale“, „deideologisierte“<br />
Position einnimmt.<br />
Einer der Vertreter der philosophischen<br />
Komparatistik in Russland, Anatolij Kolesnikov, erblickt die<br />
gesellschaftliche Rolle seiner Disziplin darin, dass sie als<br />
eine „verstehende Wissenschaft“ durch die Schaffung<br />
eines „transkulturellen Fundaments“ für Vergleich und<br />
Verständnis philosophischer Kulturen und Traditionen<br />
auch die Kriterien einer „überkulturellen Rationalität“<br />
ausarbeite, die einen interkulturellen Dialog ermöglichen<br />
müsse. Die komparatistische Methodologie solle auf<br />
diesem Weg die Extreme des Universalismus und des<br />
Relativismus überwinden und ein innerlich freies,<br />
„nomadisches Bewusstsein“ entwickeln, das über den lokal<br />
normierten Diskursrahmen hinausgehen und sich an dem<br />
überkulturellen Verständnis orientieren könne. In dieser<br />
Hinsicht erscheint ihm Komparatistik als eine<br />
„interkulturelle Zukunftsphilosophie, die jede<br />
philosophische Reflexion, die einen Anspruch auf die Rolle<br />
eines universalen Paradigmas, eines dominierenden<br />
Zentrums erhebt, dezentriert“. Kolesnikov geht es darum,<br />
einen „neuen Typus der Einheit“ zu erarbeiten, der<br />
„Unterschiede, Mannigfaltigkeit, nationale und regionale<br />
Spezifik modernen Philosophierens“ berücksichtige und<br />
jegliche Form von Monologismus, Isolationismus,<br />
Zentrismus ablehne. Nicht die Orientierung auf das<br />
Erreichen einer endgültigen Wahrheit, sondern die<br />
Orientierung auf das gegenseitige Verständnis solle zu<br />
einer ethischen Maxime des komparatistischen Denkens<br />
werden. Diese Fragestellung kann als Versuch eine<br />
„Einheit in der und durch die Vielfalt“ zu schaffen<br />
charakterisiert werden. Sie verzichtet somit auf die<br />
Semantik des Totalitarismus in einer All-Form und richtet<br />
sich auf das Herstellen einer, der Idee einer pluralistischen<br />
Gesellschaft entsprechenden, Inter-Form.<br />
Im Ensemble philosophischer Wissenschaften<br />
versteht sich die moderne russische philosophische<br />
Komparatistik als eine „Metaphilosophie“ oder eine<br />
„Philosophie der Philosophie“. Die Frage, ob dieses neue<br />
philosophische Verständnis eine stärkere gesellschaftliche<br />
und wissenschaftliche Wirkung in Russland haben wird,<br />
bleibt jedoch offen.<br />
Literatur:<br />
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und Okzident in der Geschichte der Alten Welt) (1922), in: L. I.<br />
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Filosofskie nauki (Philosophische Wissenschaften) 11, 84-102.<br />
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Slavjanstvo (Orient, Russland und Slawentum) (1885-1886). Bd. 1,<br />
Osnabrück: Zeller.<br />
Savickij, Petr 1993 Evrazijstvo (Eurasiertum) (1925), in: L. I.<br />
Novikova, I. N. Sizemskaja (Hgg.), Rossija meždu Evropoj i Aziej:<br />
Evrazijskij soblazn (Russland zwischen West und Ost: Eurasische<br />
Verführung), Moskau: Nauka.<br />
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(Über das turanische Element in der russischen Kultur) (1925), in:<br />
L. I. Novikova, I. N. Sizemskaja (Hgg.), Rossija meždu Evropoj i<br />
Aziej: Evrazijskij soblazn (Russland zwischen West und Ost:<br />
Eurasische Verführung), Moskau: Nauka.