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Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

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Interkulturelle Philosophie in Russland: Tradition und<br />

Neuorientierungen<br />

Maja Soboleva, Philipps-University Marburg, Germany<br />

Das Phänomen „Interkulturelle Philosophie“ hat in<br />

Russland eine lange Geschichte, die zwei Perioden<br />

umfasst. Vom 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts existierte<br />

interkulturelle Philosophie in Form einer Methode<br />

vergleichender Kulturforschung. In diesem Rahmen<br />

wurden zahlreiche Kulturtheorien und<br />

geschichtsphilosophische Konzeptionen entwickelt, die auf<br />

die Beschreibung verschiedener Kulturen und das<br />

Problem des Verhältnisses zwischen ihnen gezielt waren.<br />

Den Ausgangspunkt bildete dabei die sogenannte<br />

„russische Idee“ – ein besonderes Geschichtsverständnis,<br />

das Russland ins Zentrum aller kultur- und<br />

geschichtsphilosophischen Überlegungen stellte. Die<br />

Spezifik der russischen Volkskultur, die Rolle und Stellung<br />

Russlands in der Weltgeschichte, die Eigentümlichkeiten<br />

seiner Entwicklung waren herausragende Themen<br />

philosophischer Reflexion. Sie bereiteten das Fundament<br />

für die Beurteilung von historischen Ereignissen und den<br />

Aufbau des gesamten Weltbildes. Der Suche nach der<br />

kulturellen Selbstidentifikation Russlands verdanken ihre<br />

Entstehung beispielsweise die Geschichtskonzeptionen<br />

von Aleksej Chomjakov (1804 – 1860) und Fedor<br />

Dostoevskij (1821 – 1881), sowie die Theorie der<br />

kulturhistorischen Typen von Nikolaj Danilevskij (1822 –<br />

1885) und die soziale Ästhetik von Konstantin Leontjev<br />

(1831 – 1891).<br />

Der vergleichenden Kulturforschung, die die<br />

genannten Theorien präsentieren, liegen folgende<br />

Prinzipien zugrunde: Verständnis einer Kultur als<br />

Organismus, der in seiner Ontogenese unterschiedliche<br />

Entwicklungsstadien erlebt, Verständnis einer Kultur als<br />

ein erhaltendes psychisch-mentales Ganzes und<br />

Verständnis interkultureller Beziehungen nach<br />

Grundsätzen der Evolutionstheorie. Die russische<br />

kulturwissenschaftliche Tradition bietet somit eine<br />

naturalisierende Deutung der Kulturphänomene. Ein<br />

Beispiel dafür stellt die von Danilevskij ausgearbeitete<br />

Klassifizierung der «kulturhistorischen Typen» oder<br />

«eigenständigen Zivilisationen» aufgrund ihnen<br />

innewohnenden «morphologischen Prinzipien» dar. Die<br />

Kulturen unterscheiden sich durch psychische, sittliche<br />

Merkmale, ihre Begabungen und durch den «Gang und die<br />

Bedingungen ihrer historischen Erziehung» (Danilevskij<br />

1995).<br />

Die Reflexion auf die Besonderheiten der kulturellen<br />

Entwicklung Russlands im Vergleich mit anderen Ländern<br />

und vor allem mit Westeuropa geschah aufgrund einer<br />

dichotomischen Bewertungsskala. Man kann dabei<br />

Denkmuster finden, die für die Aufteilung der Kulturräume<br />

den Gegensatz „Wir“ und „Andere“ voraussetzen. Je nach<br />

dem persönlichen Standpunkt des Autors können folgende<br />

Denkschemata festgestellt werden: a) Bei dem<br />

eurozentrisch orientierten Čaadaev (1794 – 1856) kommt<br />

der Gedanke vor, dass Russland infolge seiner<br />

wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rückständigkeit<br />

„Noch-nicht-Kultur“ ist. b) Chomjakov thematisiert<br />

Verhältnisse zwischen Russland und Westeuropa<br />

ausgehend von dem Paradigma „Kultur und Antikultur“,<br />

wobei Russland mit seinem „guten“ inneren Prinzip „Kultur“<br />

symbolisiert und Westen als „böse“ „Antikultur“ erscheint;<br />

c) Für die soziale Monadologie von Danilevskij ist die<br />

324<br />

Vorstellung von „Anderer Kultur“ grundlegend: In ihrer<br />

Eigenart wichen alle Kulturen prinzipiell voneinander ab,<br />

sind voneinander unabhängig und für einander<br />

unbegreifbar; d) Dostoevskij betrachtet russische Kultur als<br />

eine „Mit-Kultur“ der westeuropäischen: vom seinem<br />

zivilisatorischen Gesichtspunkt aus erscheint der<br />

Unterschied zwischen den beiden kulturellen Topoi als<br />

kein qualitativer, sondern als ein quantitativer.<br />

Die Grundideen der interkulturellen Forschungen<br />

innerhalb von zwei Jahrhunderten bestehen in der<br />

Behauptung der Unmöglichkeit einer<br />

allgemeinmenschlichen Kultur, in der Unzulässigkeit der<br />

Identifikation der Weltgeschichte mit der europäischen<br />

Geschichte, bei der das „Allgemeinmenschliche“ mit dem<br />

„Gesamteuropäischen“ gleichgesetzt wird, und in der<br />

Verneinung eines absoluten Fortschritts und des<br />

Vorhandenseins allgemein gültiger Maßstäbe bei dem<br />

Kulturvergleich. Die meisten Konzeptionen gehen von der<br />

Voraussetzung aus, dass das historische Ziel eines jeden<br />

Volkes in der Selbsterkenntnis besteht. Da die Kultur das<br />

Erkenntnismittel eines Volkes sei, sei jedes einzelne Volk<br />

dazu verpflichtet, seine eigene authentische Kultur zu<br />

entwickeln. Die Formel „Einheit in der Vielfalt“, die die<br />

Koexistenz verschiedener Kulturtypen behauptet, trifft man<br />

als regulative Idee bei vielen Forschern.<br />

Die kulturtheoretischen Annahmen, die im Rahmen<br />

einer naturalisierenden Geschichtsschreibung gemacht<br />

wurden, hatten handlungstheoretische Folgen. Die<br />

Beziehungen zwischen kulturellen Gebilden, von denen<br />

jedes ein abgeschlossenes Universum mit ihm<br />

innewohnenden Prinzipien darstellt, wurden als<br />

kontradiktorisch definiert: von ihrer Unvereinbarkeit wurde<br />

auf eine Konkurrenz zwischen ihnen geschlossen. Das<br />

Weltgeschehen erwies sich damit als ein unaufhörlicher<br />

Kampf verschiedener Kulturen gegeneinander. Begriffe<br />

wie „Entwicklung eigener Spezifik“, „Wettbewerb“ und<br />

„Konflikt“ markieren den Gedankengang russischer<br />

Kulturforschung. Integration in einen allgemein<br />

menschlichen Kulturraum war entweder ausgeschlossen,<br />

oder nur unter Bedingung der Aufrechterhaltung kultureller<br />

Eigenständigkeit jeder nationalen Kultur denkbar. Da<br />

gegenseitiges Mißtrauen als Norm zwischenkultureller<br />

Beziehungen betrachtet wurde, konnte ein interkultureller<br />

Dialog allein auf der Basis der „geschickten<br />

Anziehungskraft auf ehrerbietiger Distanz“ erfolgen<br />

(Leontjev 1966). Im Ganzen kann man behaupten, dass<br />

den meisten kulturtheoretischen Konzeptionen ein<br />

Abwehrnationalismus innewohnte. Als sein Resultat<br />

können die Theorien betrachtet werden, die dem<br />

kulturellen Imperialismus Westeuropas den<br />

großrussischen Messianismus entgegengesetzt haben,<br />

der die Vereinigung aller Menschen aufgrund der vom<br />

russischen Volk aufbewahrten orthodox-christlichen Werte<br />

ermöglichen soll.<br />

Die Entwicklung von Phänomenologie,<br />

Hermeneutik, Semiotik, Sprachphilosophie und<br />

dialogischer Philosophie im 20. Jahrhundert führten zum<br />

Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der<br />

interkulturellen Philosophie. Dank der Phänomenologie<br />

wurden die Fragen nach der intersubjektiven

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