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Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

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Es gibt keinen Dissens, es gibt nur schlechte Interpretation. Interkultureller Dialog und Dissens - Kathrin Hönig<br />

Nachsichtigkeit hinsichtlich des uns fremd oder<br />

unverständlich vorkommenden Verhaltens bzw. Sprechens<br />

anderer, gelingt es uns, dieses Verhalten bzw. Sprechen<br />

intelligibel zu machen. Nachsicht heißt im Klartext, dass<br />

wir den anderen zuerst einmal „in den meisten Dingen<br />

recht geben, ob wir das mögen oder nicht“ (Davidson<br />

1974, 280). Im Kontext von Rationalität und Werten spricht<br />

Davidson statt von Nachsichtigkeit auch von einer „policy<br />

of rational accommodation“ (Davidson 1984, 35), womit die<br />

Schwerpunktverschiebung von der im<br />

bedeutungstheoretischen Zusammenhang wichtigen<br />

Wahrheitsunterstellung zu einer Rationalitätsunterstellung,<br />

die zugleich einen gemeinsamen Werthorizont<br />

transportiert, deutlich wird.<br />

Das Verfahren, voraussetzungslos das Verhalten<br />

anderer intelligibel zu machen, ist das der Radikalen<br />

Interpretation. Handelt es sich bei dem Verhalten nur um<br />

Sprachverhalten, so gilt es herauszufinden, was<br />

diejenigen, die sich sprachlich auf eine bestimmte Weise<br />

ausdrücken, mit ihren Äußerungen meinen. Es gilt also die<br />

Bedeutung der benutzten Wörter und Sätze<br />

herauszufinden. Diese findet man heraus, indem man den<br />

Sprechern die propositionale Einstellung des Für-wahr-<br />

Haltens zuschreibt und dann ihre Äußerungen in<br />

Beobachtungssituationen und im Lichte dessen, was man<br />

selbst für wahr hält, interpretiert. Ohne an dieser Stelle im<br />

Einzelnen auf die bedeutungstheoretische Variante der<br />

Radikalen Interpretation eingehen zu können, möchte ich<br />

festhalten, dass hier zwei Variablen im Spiel sind, nämlich<br />

die unbekannte Bedeutung der Worte und die<br />

unbekannten Überzeugungen eines Sprechers. Diese sind<br />

interdependent, denn: „Für wahr hält der Sprecher einen<br />

Satz aufgrund dessen, was der Satz (in seiner Sprache)<br />

bedeutet, und aufgrund dessen, was er glaubt.“ (Davidson<br />

1973, 196)<br />

Was das Nachsichtigkeitsprinzip leistet, ist die<br />

Fixierung einer der beiden Variablen, nämlich der<br />

Überzeugungsvariable (vgl. Davidson 1973, 199). Die<br />

Norm der Einigkeitsmaximierung wird in der „Praxis“ der<br />

radikalen Interpretation so ausgelegt, dass der Sprecherin<br />

weitgehend die gleichen Überzeugungen, die man selbst<br />

hat, zugeschrieben werden. Damit ist Einigkeit sozusagen<br />

automatisch garantiert. Diese auf den ersten Blick<br />

ungeheuerliche hermeneutische Vereinnahmung ist nur<br />

deshalb vertretbar, weil es sich beim<br />

Nachsichtigkeitsprinzip um ein methodologisches Prinzip<br />

handelt und nicht um eines, das empirisch begründet<br />

wäre. In der integrierten bedeutungs- und<br />

handlungstheoretischen Variante der Radikalen<br />

Interpretation kommt zu den beiden Variablen Bedeutung<br />

und Überzeugung eine dritte hinzu, die der unbekannten<br />

Präferenzen oder Werte einer Person. Davidsons Umgang<br />

mit dieser komplexeren Variante ist im Wesentlichen<br />

analog zum Verfahren der Radikalen Interpretation in der<br />

bedeutungstheoretischen Version.<br />

In dem Aufsatz „Expressing Evaluations“ fragt<br />

Davidson nach dem Zusammenhang zwischen evaluativen<br />

Einstellungen, wie er sie nennt, und Sprache bzw. wie<br />

evaluative Einstellungen in Sprache ausgedrückt werden<br />

(Davidson 1984, 20). Nachdem er darauf hingewiesen hat,<br />

dass das Ausdrücken einer evaluativen Einstellung oder<br />

Werthaltung bzw. Präferenz nicht an einen bestimmten<br />

semantischen Gehalt gebunden ist, sondern die<br />

Einstellung der Sprecherin zu einem beliebigen Satz<br />

darstellen kann, kann er die Menge von Sätzen, mittels<br />

derer eine Werthaltung ausgedrückt wird, über die Menge<br />

von Sätzen, die explizit ein Wertevokabular benutzen,<br />

hinausführen. Der Unterschied zwischen einer<br />

präskriptiven und einer deskriptiven Einstellung bemisst<br />

sich nun nicht mehr an sprachlichen Ausdrücken wie „es<br />

wäre gut“ oder „ich möchte, dass“, welche in offen<br />

präskriptiven Sätzen vorkommen, während sie in<br />

deskriptiven Sätzen fehlen, sondern an der Einstellung,<br />

welche die Sprecherin zu einer Proposition, also zum<br />

semantischen Gehalt eines Satzes einnimmt. So muss<br />

beispielsweise nicht ausdrücklich geäußert werden „Es<br />

wäre gut, wenn es keinen Krieg (keine Zwangsheiraten,<br />

Ehrenmorde usw.) mehr gäbe“, um eine bestimmte<br />

Werthaltung zum Ausdruck zu bringen. Die Werthaltung<br />

drückt sich in der Einstellung aus, welche die Sprecherin<br />

zur Proposition „Es gibt keinen Krieg (keine<br />

Zwangsheiraten, Ehrenmorde) mehr“ einnimmt. Eine<br />

evaluative Einstellung äußert sich dann darin, dass man<br />

möchte, dass die Proposition „Es gibt keinen Krieg mehr“<br />

wahr sei – im Gegensatz zur Überzeugung, also der<br />

Einstellung des Für-wahr-Haltens, welche glaubt, dass die<br />

Proposition „Es gibt keinen Krieg mehr“ wahr ist (vgl.<br />

Davidson 1984, 24-26).<br />

Nach einem entscheidungstheoretischen Exkurs, in<br />

welchem Davidson herleitet, dass man die relative<br />

Präferenz zwischen zwei Sätzen einer Sprecherin ermitteln<br />

kann, auch wenn man deren Sprache nicht versteht,<br />

kommt er zurück auf das Nachsichtigkeitsprinzip. „The key<br />

to the solution for simultaneously identifying the meanings,<br />

beliefs, and values of an agent is a policy of rational<br />

accommodation. “ (Davidson 1984, 35) Wie schon in der<br />

bedeutungstheoretischen Version leistet auch hier das<br />

Nachsichtigkeitsprinzip die Fixierung einer der drei<br />

Variablen. Um Einigkeit zu maximieren, wird die Interpretin<br />

der handelnden Person ihre eigenen Präferenzen und<br />

Werte zuschreiben. Spätestens hier muss man fragen, ob<br />

diese Einigkeitsunterstellung mehr ist als eine<br />

egozentrische Vereinnahmung oder ein „kommunikativ<br />

ungehemmter ‚Deutungswahn’“ wie Josef Simon es<br />

formuliert hat (Simon 1995, 15), und ob sich die<br />

Einigkeitsunterstellung über die Behauptung hinaus<br />

begründen lässt, dass es sich dabei um eine<br />

methodologische Notwendigkeit der Interpretation handle.<br />

Ich meine, sie ist mehr und sie lässt sich begründen,<br />

sofern man Davidsons Auffassung davon berücksichtigt,<br />

wie der Gehalt von Werten bzw. Überzeugungen zustande<br />

kommt und bestimmt werden kann.<br />

Gemäß Davidson hat der Gehalt von<br />

Überzeugungen etwas mit den Ursachen dieser<br />

Überzeugungen zu tun. Zwischen Ursache und Gehalt<br />

einer Überzeugung besteht ein systematischer<br />

Zusammenhang. Davidson nennt es eine „Grundeinsicht“,<br />

dass „Worte und Gedanken in den einfachsten Fällen auf<br />

das Bezug nehmen, wodurch sie bewirkt werden… Der<br />

Grund ist, dass wir nicht zuerst Begriffe bilden und dann<br />

herausbekommen, worauf sie zutreffen; vielmehr ist es so,<br />

dass in den fundamentalen Fällen die Anwendung den<br />

Inhalt des Begriffs bestimmt.“ (Davidson 1989, 70f) Was in<br />

diesem Zitat aus der bedeutungstheoretischen Perspektive<br />

beschrieben wird, gilt nicht nur für Überzeugungen,<br />

sondern für alle propositionalen Einstellungen, also auch<br />

für Präferenzen und Werte. Evaluative Ausdrücke wie<br />

„gut“, „schlecht“ oder „das ist falsch“, sagt Davidson,<br />

würden auf dieselbe Weise erworben wie deskriptive<br />

Ausdrücke (vgl. Davidson 1995, 47, 48; 1984, 36). Wenn<br />

eine Interpretin das Verhalten einer Person verstehen<br />

möchte, geht sie davon aus, „…that similar causes beget<br />

similar evaluations in interpreter and interpreted“<br />

(Davidson 1986, 72). Es bleibt ihr dann nichts anderes zu<br />

tun übrig, als der fraglichen Werthaltung oder<br />

Überzeugung eine Ursache im sozialen Raum<br />

zuzuordnen. Dabei handelt es sich natürlich um die<br />

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