Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society
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Es gibt keinen Dissens, es gibt nur schlechte Interpretation.<br />
Interkultureller Dialog und Dissens<br />
Kathrin Hönig, University of Zürich, Switzerland<br />
In multikulturellen Gesellschaften ist die Gefahr von<br />
Missverständnissen relativ gross. Dies hat zunächst<br />
weniger etwas mit rein sprachlichen<br />
Verständigungsschwierigkeiten zu tun – damit natürlich<br />
auch – als vielmehr mit dem Aufeinandertreffen fremder,<br />
wechselseitig unverstandener Lebensformen.<br />
<strong>Wittgenstein</strong>s Bemerkung in den Philosophischen<br />
Untersuchungen über die Möglichkeit, dass man trotz der<br />
Beherrschung der Sprache eines fremden Landes, die<br />
Menschen dort nicht versteht (<strong>Wittgenstein</strong> 1995, 568),<br />
scheint mir auf genau diesen Sachverhalt hinzuweisen.<br />
Missverständnisse, wenn es denn echte<br />
Missverständnisse sind, lassen sich aufklären. Häufig<br />
jedoch gestaltet sich die interkulturelle Kommunikation<br />
über die Klärung von Missverständnissen hinaus<br />
konflikthaft und dann wird von interkulturellen Konflikten<br />
oder auch von unauflösbarem Dissens gesprochen. Bevor<br />
ich ein sprachphilosophisches Modell vorstelle, das –<br />
pointiert ausgedrückt – behauptet, es gebe gar keinen<br />
Dissens, es gebe nur schlechte Interpretation, möchte ich<br />
kurz auf den Dissensbegriff im interkulturellen Kontext<br />
eingehen und dabei einen starken Dissensbegriff von<br />
einem schwachen, üblicherweise mit<br />
„Meinungsverschiedenheit“ benannten, abheben.<br />
Der Beispiele, auf die der Dissensbegriff angewandt<br />
werden kann, sind genügend: Ehrenmorde,<br />
Zwangsheiraten, Dispensierung vom Turn- und/oder<br />
Schwimmunterricht usw. Das sind die bekannteren,<br />
insbesondere religiöse, im Gegensatz zu säkularen<br />
Lebensformen betreffenden Beispiele; es mag weniger<br />
bekannte und für andere Lebensformen geltende geben,<br />
auf welche der Dissensbegriff gleichermaßen zuträfe. Es<br />
geht mir jedenfalls nicht darum, irgendeine kulturelle<br />
Gemeinschaft zu privilegieren oder zu stigmatisieren,<br />
sondern darum, an diesen allseits bekannten Beispielen<br />
die Bedingungen für einen starken Dissensbegriff zu<br />
erläutern.<br />
Worum geht es? Zunächst ist klar, dass im<br />
vorliegenden Zusammenhang Dissens bezüglich einer<br />
bestimmten Praxis besteht, die von einer Seite befürwortet<br />
wird, während die andere sie missbilligt. Weniger klar<br />
scheint mir schon, dass beide Seiten gute Gründe für bzw.<br />
gegen die in Frage stehende Praxis vorbringen können<br />
sollten. Doch um zu einem Dissens im starken Sinne zu<br />
kommen, reicht es nicht, eine Praxis einfach abzulehnen,<br />
weil es z.B. nicht die eigene ist, sondern es setzt ein<br />
gewisses Verständnis dieser Praxis, und das heißt, der<br />
Gründe, die dafür oder dagegen sprechen, voraus. Ein<br />
starker Dissensbegriff ist nicht auf der Ebene eines ersten,<br />
möglicherweise idiosynkratischen Urteils über einen<br />
bestimmten Sachverhalt oder eine Praxis anzusiedeln. Er<br />
beinhaltet eine Verständigung über die Gründe für oder<br />
gegen diese Praxis. Dies kann eine Verständigung über<br />
die den Gründen zugrunde liegenden Werte einschließen.<br />
Der Verständigung über Gründe oder Werte ist das<br />
Verstehen der sprachlichen Äußerungen, welche die<br />
Gründe oder Werte zum Ausdruck bringen, vorgeschaltet.<br />
Dissens steht also Ende eines Verstehens- und<br />
Verständigungsprozesses, und nicht an seinem Anfang.<br />
Dieser Umstand bezeichnet den Unterschied zur<br />
Meinungsverschiedenheit, dem Dissens im schwachen<br />
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Sinne. Die Meinungsverschiedenheit kann am Anfang<br />
eines Verständigungsprozesses stehen und am Ende<br />
aufgelöst sein, wenn man sich über einen Konsens<br />
verständigt hat. Die Meinungsverschiedenheit kann auch<br />
am Anfang eines Verstehensprozesses stehen, an dessen<br />
Ende sich herausstellt, dass man die andere Person „bloß“<br />
nicht richtig verstanden hatte. Dissens hingegen<br />
bezeichnet die mittel- oder längerfristige Unmöglichkeit,<br />
einen Konsens herzustellen.<br />
Dies ist der Punkt, an dem beispielsweise Jürgen<br />
Habermas die Toleranzzumutung einführt: „Toleranz wird<br />
denen zugemutet, die aus jeweils guten subjektiven<br />
Gründen andere Überzeugungen und Praktiken in dem<br />
Bewusstsein ablehnen, dass es sich um einen zwar<br />
kognitiven aber auf längere Sicht unlösbaren Dissens<br />
handelt.“ (Habermas 2003, 390) Man könnte dies als eine<br />
Art Dissensmanagement bezeichnen. Ich möchte dieser<br />
Art von Dissensmanagement eine Position<br />
gegenüberstellen, die von Anfang an die Möglichkeit von<br />
Dissens im starken Sinne zu verneinen scheint. Es handelt<br />
sich um Donald Davidsons sprach- und<br />
handlungstheoretischen Ansatz, den ich oben durch die<br />
Formulierung „Es gibt keinen Dissens, es gibt nur<br />
schlechte Interpretation“ charakterisiert hatte.<br />
Das für multikulturelle Gesellschaften diagnostizierte<br />
Dissensrisiko scheint gegen Null zu streben, legt man<br />
einen Ansatz, wie Donald Davidson ihn vertritt, zugrunde.<br />
Davidson behauptet, dass, wenn wir mit den anderen<br />
kommunizieren können, wir bereits eine ganze Reihe an<br />
Grundwerten mit ihnen teilten. „If we understand their<br />
words, a common ground exists, a shared ‘way of life’.”<br />
(Davidson 1984, 37) Das Finden einer gemeinsamen<br />
Grundlage geteilter Werte ist gemäß Davidson eine<br />
Bedingung von Verstehen und nicht umgekehrt Verstehen<br />
die Bedingung für das Herausfinden, dass man<br />
gemeinsame Werte hat – oder eben nicht hat. Mit anderen<br />
Worten: Verstehen fungiert gerade nicht als Bedingung<br />
dafür, dass man gegebenenfalls einen Dissens im vorher<br />
beschriebenen starken Sinne feststellen kann (vgl.<br />
Davidson 1995, 51; 1984, 37). Es scheint, als sei Dissens<br />
in einem starken Sinne überhaupt nicht möglich.<br />
Dies hat etwas mit Davidsons integrierter<br />
Bedeutungs- und Handlungstheorie zu tun (vgl. Davidson<br />
1980), auf die ich im Folgenden näher eingehe. Es wird<br />
sich zeigen, dass in Davidsons Ansatz Einigkeit sowohl<br />
hinsichtlich Überzeugung und Bedeutung als auch<br />
hinsichtlich Werten aus methodologischen Gründen<br />
maximiert wird. Dennoch bleiben meines Erachtens<br />
Spielräume, bei denen die Interpretin die Wahl hat, einen<br />
Dissens festzustellen und ihn als Dissens stehen zu lassen<br />
oder Dissensmanagement zu betreiben, wobei der<br />
Dissens dann verschwindet.<br />
Die Maximierung von Einigkeit, die grundsätzliche<br />
Übereinstimmung in bezug auf Überzeugungen oder<br />
Werte ist der zentralen Rolle, die das<br />
Nachsichtigkeitsprinzip in Davidsons Philosophie spielt,<br />
geschuldet. Nachsicht, dies betont Davidson immer<br />
wieder, sei nicht etwa „eine zur Auswahl stehende<br />
Möglichkeit“, sondern sie sei uns „aufgezwungen“<br />
(Davidson 1974, 280). Denn nur aufgrund von