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Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

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definiert werden, methodische, metaphysische, logische,<br />

erkenntnistheoretische, ethische und anthropologische<br />

Grundfragen mit Hilfe der Reflexion über die menschlichen<br />

Erfahrungen zu verstehen, zu deuten, zu erklären und<br />

auch zu begründen (vgl. Mall 2003: 31).<br />

Im Umstand, dass in vielen Traditionen ähnliche<br />

philosophische Fragen nach Grund, Sinn, Geltung,<br />

Begründung und Rechtfertigung gestellt werden, zeigt sich<br />

für die interkulturelle Philosophie eine den Menschen<br />

gemeinsame Vernunft. Mall sieht darin eine allgemein<br />

menschliche Disposition jenseits der ethischen und<br />

kulturellen Grenzen nach Gründen und Argumenten zu<br />

suchen (vgl. ebd.: 66). Die Vernunft stellt in dieser Hinsicht<br />

eine nicht weiter reduzierbare anthropologische Größe<br />

dar, die in ihren Graden der Formalität, des<br />

Ordnungsgedankens oder des Normativen in<br />

verschiedenen Kulturen unterschiedliche Ausformungen<br />

gefunden hat (vgl. ebd.: 94). Auch Ian Jarvie, ein Schüler<br />

Poppers, spricht vom Konzept einer Gemeinschaft der<br />

Rationalität (community of rationality). Die Vernunft ist<br />

demnach bei allen Menschen und Kulturen vorhanden,<br />

auch wenn sie in verschiedenen Gesellschaften in<br />

unterschiedlicher Art und Stärke erkannt und gepflegt wird<br />

(vgl. Jarvie 1972: 47). Popper verweist ebenfalls auf eine<br />

rationale Einheit der Menschheit beruhend auf dem<br />

Umstand, dass das menschliche Wissen kein individuelles<br />

Produkt ist, sondern auf dem Austausch zwischen den<br />

Menschen, auf dem sozialen Prozess der Überlieferung,<br />

Diskussion und Argumentation beruht. Dass sich diese<br />

Einheit auch interkulturelle verstehen lässt, kann man aus<br />

Poppers Darstellung seiner eigenen Erfahrung an der<br />

London School of Economics erkennen. Im Kontakt mit<br />

Studenten aus anderen Kulturkreisen zeigte sich in der<br />

Regel, so Popper, dass die größten Schwierigkeiten für<br />

eine rationale Diskussion nicht in kulturellen oder<br />

sprachlichen Unterschieden lagen, sondern vielmehr in der<br />

Indoktrination der Studenten mit dogmatischen westlichen<br />

Ideen und Ideologien. (Vgl. Popper 1994: 51).<br />

Die Pluralität der Kulturen und Philosophien fordert<br />

gemäß den Prinzipien einer interkulturellen Philosophie,<br />

dass die verschiedenen kulturellen Rahmen ernst<br />

genommen werden und keine Form einer lokal verorteten<br />

Vernunft absolut gesetzt und gegen Kritik immunisiert wird<br />

(vgl. Mall 2003: 90). Mall entwickelt hierfür auch das<br />

Konzept eines orthaft ortlosen Rationalismus. Orthaft ist<br />

die Vernunft, weil sie sich immer nur in den partikulären<br />

lokalen Vernunftauffassungen zeigen kann. Ortlos ist sie,<br />

weil sie in diesen nicht ganz aufgeht und das Bestehen<br />

bestimmter erlebbarer Überlappungen zwischen den<br />

Kulturen auf eine Einheit bzw. Universalität der Vernunft<br />

jenseits aller Relativismen, Essentialismen und<br />

Fromalismen hinweist (vgl. ebd.: 2003: 22; Yousefi und<br />

Mall 2005: 32). Auch Wimmer betont, dass die<br />

Betrachtung von unterschiedlichen kulturellen<br />

philosophischen Traditionen nicht dazu führen darf, dass<br />

diese aufgrund der Behauptung einer wie auch immer<br />

gearteten Besonderheit, sei es aufgrund der Entstehung,<br />

des ethnischen bzw. rassischen Hindergrundes oder einer<br />

anderen natur- oder kulturgegebenen Bedingung, einer<br />

rational-diskursiven Begründung entzogen werden. Eine<br />

solche Sichtweise hat negative Folgen für die<br />

interkulturelle Philosophie, da sie ebenso in relativistische<br />

Beliebigkeit wie in Fatalismus münden kann. So kritisiert<br />

etwa Wimmer in Bezug auf die Ethnophilosophie, dass hier<br />

manchmal nicht nur davon ausgegangen wird, dass<br />

Philosophieren außerhalb eines konkreten Kontextes nicht<br />

möglich ist, sondern auch die Behauptung aufgestellt wird,<br />

dass auch dessen Ergebnisse nur unter Hinsicht auf den<br />

Konvergenzen in grundlegenden Prinzipien zwischen dem ... - Harald Stelzer<br />

jeweiligen Kontext verstanden, eingeschätzt und beurteilt<br />

werden können. (Vgl. Wimmer 2004: 58 f.).<br />

Ganz ähnlich lautet die Kritik Poppers an der<br />

Wissenssoziologie Mannheims oder dem Marxismus, die<br />

die Menschen als in ihren toalen Ideologien eingesperrt<br />

darstellen. Werden die Äußerungen, Ansichten und<br />

Argumente von Personen ausschließlich als durch ihren<br />

Hindergrund, sei dieser nun ideologisch, geschichtlich<br />

oder kulturell bestimmt, determiniert angesehen, dann<br />

scheint eine Verständigung zwischen Menschen mit<br />

unterschiedlicher Herkunft unmöglich. Die Position, die<br />

davon ausgeht, dass eine rationale und fruchtbare<br />

Diskussion unmöglich ist, solange die Teilnehmer nicht<br />

einen gemeinsamen Rahmen von grundsätzlichen<br />

Annahmen teilen oder zumindest über einen solchen<br />

Rahmen für ihre Diskussion übereingekommen sind, hat<br />

Popper unter dem Titel des Mythos des Rahmens kritisiert.<br />

Für ihn gehen dessen Vertreter von einem unrealistisch<br />

hohen Grad der Verständigung aus. Wenn dieser nicht<br />

erreichbar ist, dann wird für sie Verständigung und<br />

Verstehen überhaupt unmöglich. Popper sieht hierin<br />

jedoch einen gefährlichen Fehlschluss. Auch wenn es<br />

niemals möglich ist, den eigenen kulturellen und sozialen<br />

Rahmen vollkommen zu verlassen, kann man doch den<br />

eigenen Horizont erweitern und im gegenseitigen<br />

Austausch einander näher kommen. (Vgl. Popper 1994: 33<br />

ff und 53).<br />

In analoger Weise wendet sich auch die<br />

interkulturelle Philosophie sowohl gegen die Fiktion einer<br />

totalen Kommensurabilität, die von einer Identität der<br />

Kulturen ausgeht und daher versucht, das Fremde unter<br />

das Eigene und Bekannte zu subsumieren, als auch<br />

gegen die Vorstellung einer völligen Inkommensurabilität,<br />

die einen Vergleich zwischen den Kulturen und einen<br />

interkulturellen Diskurs unmöglich machen würde (vgl.<br />

Yousefi und Mall 2005: 41). Beide Positionen sehen den<br />

Weg zwischen der „Scylla“ des dogmatischen<br />

Absolutismus und Begründungsdenkens und der<br />

„Charybdis“ des Relativismus im Dialog. Die interkulturelle<br />

Philosophie verfährt stets dialogisch bzw. polylogisch. Erst<br />

durch den Polylog der Kulturen wird es möglich,<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen. Auch<br />

der kritische Rationalismus weist eine solche dialogische<br />

Ausrichtung auf. Der Weg für den Erkenntnisfortschritt<br />

besteht gemäß dieser Position in der freien und kritischen<br />

Diskussion. Dadurch soll es möglich sein, gemeinsam der<br />

Wahrheit einen Schritt näher zu kommen, ohne diese<br />

jedoch je endgültig und mit Gewissheit erreichen zu<br />

können. Beide Positionen sehen die Voraussetzung für ein<br />

solches diskursives Vorgehen nicht in einer idealen<br />

herrschaftsfreien Diskurssituation und einem darauf<br />

beruhenden Konsensualismus, sondern in der<br />

Bereitschaft, aufeinander zu hören, voneinander zu lernen,<br />

sich gegenseitig in Frage stellen zu lassen und die<br />

eigenen Überzeugungen erneut zu überdenken. (Vgl. ebd.<br />

35 f. und 91 f.).<br />

Dies verweist auf eine weitere Konvergenz<br />

zwischen beiden Positionen, die Betonung der Pluralität<br />

und Vielfalt. Die Pluralität stellt für den kritischen<br />

Rationalismus eine wichtige Voraussetzung für den<br />

Fortschritt sowohl im wissenschaftlichen als auch im<br />

politisch sozialen Bereich dar. So sind der<br />

Theorienpluralismus und die damit verbundene<br />

Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Hypothesen in der<br />

Wissenschaft ein unverzichtbares Element der kritisch<br />

rationalen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Ebenso<br />

ist die Pluralität ein Strukturmerkmal einer offenen<br />

Gesellschaft und eine Voraussetzung und Konsequenz der<br />

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